Übrigens …

Heute: Kohlhaas im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Burleskes Polit-Theater

„Ihr glaubt an Eurer Ahnen Lehre:

Ich bin der Herr und du der Knecht!

Herr sein erachtet ihr als Ehre

und Ehre als ein Sonderrecht.“

 

Das Gedicht Die Stimme der Gemordeten aus dem Zyklus Brennende Erde von Erich Mühsam, geschrieben im März 1919, steht am Ende der Aufführung des Agora-Theaters St. Vith aus dem deutschsprachigen Belgien. Da ist Michael Kohlhaas tot.

Mühsam war politischer Aktivist und Anarchist; er war an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt – wenige Wochen nach der Niederschrift des obigen Gedichts. Dafür wurde er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt; zwar profitierte er von einer Amnestie fünf Jahre später, doch wurde er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erneut verhaftet und im KZ ermordet. Klingt irgendwie logisch, dass sich die Leute vom Agora-Theater an Mühsam erinnert haben, als sie die Geschichte des wohlmeinenden, aber nach mehrfach aufgrund herrschaftlicher Willkür erlittenem Unrecht zum Anarchisten und Initiator eines blutigen Volksaufstands gewordenen Kohlhaas erzählen wollten. Gemordet wurde auch Kohlhaas. Sein Recht hat er sich erstritten, die ihm unrechtmäßig konfiszierten Rappen zurückerhalten, der selbstherrliche Junker von Tronka wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt – und Kohlhaas für seinen blutigen Aufstand, ohne den er niemals zu seinem Recht gekommen wäre, hingerichtet.

Das Agora-Theater spielt die Geschichte von Kohlhaas als „Theater im Theater“ für Jugendliche und Erwachsene ab 15 Jahren. Eine reisende Künstlerfamilie stellt die Ereignisse dar, mit allen Widrigkeiten und Missgeschicken, die einem Wandertheater begegnen können, bis hin zum Stromausfall. Es ist eine wunderbar phantasievolle Aufführung, die mit Zirkusmetaphern und Clownsmotiven spielt (die Altersangabe „ab 15“ erscheint übertrieben defensiv), mit mittelalterlicher Musik und E-Gitarren-Klängen, Bänkelsang und Schauerballaden. Sie ist charmant, witzig und arbeitet ungeniert mit allen Mitteln des Volkstheaters. Und dennoch thematisiert sie deutlich die politischen Aspekte des Kleistschen Textes, und auch den die Geschichte verfolgenden Jugendlichen wird der Transfer der Aussagen ins Heute gelingen: Da gibt es Amigo-Affären und Korruption; Willkür und Machtmissbrauch treten vielleicht ein bisschen holzschnittartiger zu Tage als in der eleganten Staatsform unserer Demokratien, aber so ganz unbekannt sind uns solche Vorgänge nicht. Und es ist die Nichteinhaltung von Menschenrechten, die zum blutigen Aufstand führt: friedliche Revolutionen gibt es erst seit 1989, und sie werden wohl die Ausnahme bleiben. Die mal burleske, mal poetische Aufführung macht auch jungen Leuten Spaß und nimmt ganz unauffällig auch die Funktion des Theater als Bildungsinstitution und als moralische Anstalt wahr. Nächstes Gastspiel der vielfach prämierten Aufführung am 27. Juni 2013 im Rahmenprogramm des NRW-Theatertreffens in Bielefeld.