Gedanken über weite Entfernungen im Wuppertal, Schauspielhaus

Microtheater

Vier Menschen sitzen in einer Reihe und schauen ins Publikum. Etwas weiter weg sitzt ein fünfter in einem Glaskasten. Nichts geschieht. Es ist ganz still. Man nimmt kleinste Kleinigkeiten wahr. Plötzlich zwinkert einer. Der Nächste. Der Nächste. Der Nächste. Hin und her. Wie Flüsterpost. Ein Spiel? Hilfesignale über Gefangensein im Selbst, im Körper? Einfach Spaß? Der fünfte blinzelt frustriert alleine vor sich hin. Dann setzt er Kopfhörer auf, nimmt einen Laptop, lenkt sich ab. Kleine, knisternde, klirrende Geräusche sind im Raum, in der Stille, Markierungen derselben. Eine Schwebebahn fährt vorbei hinterm Wuppertaler Schauspielhaus. Es hallt geradezu ohrenbetäubend. Langsam kommt das Spiel in Gang, finden sich Zweier-, Dreiergruppen, nehmen auch sprachlich Kontakt miteinander auf, verschämt, höflich. „Could you please…“, beginnt jeder Satz und dann werden Wünsche geäußert, die direkt auf den Körper, auf das Körpergefühl zielen. „Could you please hold my head?“, fragt zum Beispiel einer. Das Publikum glaubt sich verhört zu haben. Stimmt aber nicht. Der andere fasst dem einen zart auf den Kopf. Ein Dritter, der im Glaskasten, sieht traurig, neidisch zu. Auch die zweite Hand geht zum Kopf, probiert aus, liebkost, stützt. Es entsteht ein wunderschöner Zeitlupentanz, ein Pas de Deux en Miniature für zwei Männer in Jeans. Irgendwann verlässt der Dritte seinen Glaskasten und nimmt Kontakt auf. Irgendwann sind alle drin im Glaskasten, sind jetzt eine Gruppe. Sofort gibt es einen Bestimmer, dann einen anderen. Immer gibt es einen, der die Kommandos gibt. Der Kasten läuft buchstäblich voll Nebel, bis man nichts mehr sieht. Schemen, Gliedmaßen, Menschen, Kleingruppen lösen sich heraus und verschwinden wieder. Wenn der Nebel sich verzieht, ist jeder bei sich, bei Bewegung, bei stiller Musik. Dann machen sie nochmal alle das Gleiche, gemeinsam schwingend und jeder für sich. Der in der Mitte richtet den Blick leicht nach oben: „Could you please turn off the light?“

Diese Gedanken über weite Entfernungen sind eine Koproduktion der Wuppertaler Bühnen mit einer freien Theatergruppe, Anne Hirths „Büro für Zeit und Raum“, gefördert durch das „Doppelpass“–Programm der Kulturstiftung des Bundes. Der 75minütige Abend ist ein waghalsiges Experiment ohne jedes Skandalpotenzial. Wahrnehmen sollen wir und „Stille zurückgeben“, wie der Dramaturg Johannes Blum in der Einführung sagt. Aussetzen sollen wir uns. Schwingen, nicht denken. Das nicht sehr zahlreiche Publikum an diesem Montagabend tut es und erfährt diese Stille als Musik, als völlig ungefährliche bewusstseinserweiternde Droge. Irena Tomazin, Ivan Fatjo Chavez, Ariel Garcia, Gregor Henze und Gregory Stauffer kommen aus ganz verschiedenen Ecken – Schauspieler, Tänzer, Musiker verschiedenster Welten – und können viel. Immer wieder blitzt das auf, neben ihrer Präzision, Entspanntheit und Disziplin, wenn sie gleichsam Kerben schlagen in die Stille.

Und diese Gedanken über weite Entfernungen sind die letzte Produktion im Foyer des baufälligen, demnächst privatisierten Schauspielhauses, Deutschlands ungewöhnlichster Studiobühne. Nahezu jede Produktion war hier Wagnis, ein sich Ausprobieren, ein was anderes Versuchen. Das hat nicht immer alles funktioniert, aber wenn, war es stets außergewöhnlich. Die Stadt will diese Art von Theater nicht mehr. Die Stadt will Klassiker, Komödien, konsumierbare Zeitstücke. Ohne Risiko. Was für jeden.

Sehen wir es positiv. Ein Jahr Treskow/Weigand haben wir noch! Und Anne Hirth und ihre Truppe kommen auch noch mal wieder.