Vor den Bildern sterben die Worte
Es ist das große Projekt des Theaters an der Rottstraße für die kommende Spielzeit: die Rom-Trilogie mit Albert Camus‘ Caligula sowie eigenen Stückentwicklungen zu Caesar und Nero. Charlene Markows Inszenierung der Kassandra wird als Prolog zu dieser Rom-Trilogie angekündigt. Was zum Teufel hat Kassandra mit Rom zu tun?
Nun, um die Ecke gedacht haben sie schon immer im angesagtesten Off-Theater des Ruhrpotts. Den Link zu Rom bildet Aeneas, als General von Troja zwar nicht so listenreich wie das Trojanische Pferd der Griechen, aber dennoch das beste Pferd im Stall des Troja-Feldherrn Hektor. Aeneas war der Opa von Romulus und Remus, den römischen Stadtgründern. Bei Homer hat Kassandra, die unglückliche trojanische Seherin, mit Aeneas zwar nicht allzu viel zu tun. Aber wer ist Homer - wir haben Christa Wolf! Und die weiß von der Liebe Kassandras zu Aeneas, und zumindest im Geiste lässt sich Kassandra vom trojanischen Helden und Rom-Begründer-Großvater begatten. Womit die Rechtfertigung geliefert wäre, das Stück als Prolog zur Trilogie zu betrachten. Der Gedanke ist etwas kompliziert, aber es führen eben viele Wege nach Rom…
Kompliziert ist auch die Aufführung von Charlene Markow. Ruhig zurücklehnen und gemütlich an der mit der Theaterkarte erworbenen Flasche Pils nuckeln, geht nicht. Markow hat eine ausgesprochen anspruchsvolle Collage zum Kassandra-Mythos entwickelt, die sich vorwiegend aus Christa Wolfs gleichnamiger Erzählung speist, aber auch auf Texte von Friedrich Hölderlin und Friederike Mayröcker zurückgreift. Die Regisseurin hat alle in der griechischen Mythologie oder in Christa Wolfs Text auftretenden Figuren mit Ausnahme der Kassandra gestrichen; diese aber wird von gleich zwei Schauspielerinnen vertreten. Katharina Rehn, Schauspielschülerin an der Folkwangschule, hängt bereits vierzig Minuten vor Beginn der Aufführung in den Seilen: Im unendlich langen Reifrock steht sie vom Einzug des Publikums bis kurz vor dem Ende der 80minütigen Spieldauer auf einer unter dem Rock verborgenen Tonne, groß und übermächtig, angebunden mit zwei Bändern an das Gewölbe, über das gelegentlich vernehmlich die Glückaufbahn nach Gelsenkirchen rumpelt. Sie ist vor allem die Priesterin, spricht die Prophezeiungen und ist für das Pathos zuständig. Jessica Maria Garbe, die im Amphitryon an gleicher Stelle als so lebenslustige wie konsequente, ungeheuer heutige Alkmene unsere Herzen erobert hatte, muss diesmal ihre Lebenslust im Zaum halten – nicht minder düster als Rehn gibt sie eine Kassandra, die reflektierend auf ihr Leben blickt, die leidet an der Missachtung durch ihre Mitbürger, am Fluch des Apoll, an ihrem Außenseitertum.
Der Gott Apoll – dies nur noch einmal zur Erinnerung – hätte Kassandra gern verführt. Anstatt ihr in der Disko ‘nen Sekt auszugeben oder ihr ein paar Ohrringe zu schenken, um sie ‘rumzukriegen, verlieh er ihr die von ihr so dringlich ersehnte Sehergabe – und als sie sich dennoch weigerte, mit ihm ins Bett zu gehen, belegte er sie mit einem Fluch: Niemand werde je auf ihre Prophezeiungen hören. Und so verflucht nun auch unsere Rottstraßen-Kassandra ihren einstigen Wunsch: Die bösen Prophezeiungen - sie haben die Straße aus Sprengstoff gebaut, heißt es einmal; man zeiht Kassandra der Lüge, man leugnet, dass sie die Wahrheit vorhersagen kann – immerhin hat sie den Untergang Trojas prophezeit und, wenn auch verschlüsselt, die List mit dem Trojanischen Pferd.
Untergang – das ist das Stichwort. „Und ich lehrte mich, das Unerhörte zu denken: Die Welt könnte nach unserem Untergang weitergehen“, sagt Kassandra. Obwohl sich Charlene Markows Inszenierung ebenso wie Christa Wolfs Text scheinbar auf die Vorkommnisse im antiken Troja konzentriert, hört, wer Ohren hat zu hören, die Allgemeingültigkeit der Klagen und Analysen, die Verweise auf das Heute oder die jüngere Geschichte. Geradezu apokalyptische Bilder sind es, die die beiden Schauspielerinnen vor unserem geistigen Auge entstehen lassen, Bilder vom Krieg, vom Rüstungswahnsinn, von der Gewalt, der wir uns wider besseres Wissen nicht zu entziehen vermögen; Bilder vom Hass, der die Liebe unmöglich macht. Für die Aufführung gilt, was einst die ZEIT in ihrer Rezension der Erzählung von Christa Wolf schrieb: Die Richtung der Erzählung (und von Markows Inszenierung) ist die Richtung unseres Tuns - immer abwärts, unaufhaltsam hinab in Schmerz und Tod. Und in die Sprachlosigkeit: „Vor den Bildern sterben die Worte“ heißt einer der berühmten Sätze in Christa Wolfs Text. Wir hören ihn auch in der Markow-Inszenierung. „In was für einer Sprache darf ich noch reden? Wie viele Wörter darf ich sprechen, dass ihr es noch versteht?“, klagt Kassandra – vordergründig bezogen auf den Fluch des Apollo, der verhindert, dass die Menschen ihren Prophezeiungen Glauben schenken, und der bewirkt, dass ihr Hass und Unverständnis entgegenschlagen. De facto aber im Hinblick auf eine Menschheit, die es auch nach mehr als 3000 Jahren nicht versteht, Kriege zu verhindern, Konflikte friedlich zu lösen, der Liebe und der Harmonie zum Sieg über Machtstreben, Eifersucht und Hass zu verhelfen.
Jessica Maria Garbe scheint bei ihrer Klage hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und grausamer Faszination, zwischen lustvollem Zynismus und unendlichem Leid, zwischen Anflügen von Arroganz und Selbstzweifeln. Vordergründig scheint die dramatische Kraft des Textes begrenzt, da es sich in erster Linie um Innenschauen, Reflexionen und Rückblicke handelt: Es gibt wenig Aktion und nur gelegentliche Interaktion zwischen den Schauspielerinnen. Nebelmaschinen, mit einfachsten Mitteln erzeugte Lichtstimmungen und nicht zuletzt die tolle Musikauswahl unterstützen die Wirkung des Abends, an dem Markow dennoch ganz auf den Text und auf die Kraft der beiden starken Schauspielerinnen vertraut. Eines schwierigen Abends, der hochanspruchsvolles Theater bietet. Die Worte sterben nicht an diesem Abend – sie fordern eindrucksvoll ihr Recht. Egal, wie viel wir davon verstehen.