Das fremde Kind im Schauspielhaus Düsseldorf

Die Auslöschung der Tinten-Fliege

Erstmal geht’s nach draußen, und da ist etwas angerichtet, das die Zielgruppe der ca. sechsjährigen kleinen Theaterzuschauer fasziniert: „Inne Murre murren“ kann man da, wie Opa zu sagen pflegte. Christlieb und Felix tun das ausgiebig – lustvoll seifen sie sich ein mit nassem Staub Sand Dreck. Fast ehrfürchtig schauen die Kinder zu – und kreischen ein wenig, als die beiden Sprösslinge des Edelmanns Thaddäus von Brakel auf sie zustürmen und sie ebenfalls ein wenig einsauen wollen. Keine Sorge, liebe Eltern, sauber und klinisch rein werden Ihre Blagen schließlich durch ein Loch im papierenen Vorhang, an dem sie von den Christliebs und Felix‘ Eltern persönlich begrüßt werden, auf ihre Plätze geführt, und das eigentliche Spiel im Jungen Düsseldorfer Schauspielhaus beginnt.

Das da draußen war die heile Welt im Dörfchen Brakelheim, in dem die Kinder des niederen Adligen Thaddäus und seiner Frau sich nach Herzenslust austoben können. Xenia Noetzelmann als Christlieb und Elena Schmidt als Felix spielen die etwas doofe Landjugend intelligent – charmant, witzig und kokett fangen sie die zuschauenden Kinder vom ersten Moment an ein. Und die lachen sich tot über die feinen Herrschaften, die eines Tages bei den Brakels zu Besuch kommen: über den „gnädigen Herrn Onkel“, dargestellt von der nicht gerade kleinen Betty Freudenberg auf riesigen Plateausohlen, und seine Begleitung. Die Standesunterschiede zwischen den „simplen Vons“ und dem Gräflichen Geschlecht derer von Brakel quittieren sie staunend – oder lachen sie einfach weg. Mit zunehmendem Engagement folgen die kleinen Zuschauer der von Nora Schlocker und ihrem Team erzählten Geschichte.

Dabei ist die eigentlich ganz schön verworren. E. T. A. Hoffmans nahezu 200 Jahre altes Kunstmärchen von den bodenständigen, naturverbundenen Thaddäus-Kindern Felix und Christlieb, die vor allem beim Spielen im Wald glücklich sind, und den dekadenten, verbogenen, gekünstelten reichen Verwandten, die ihnen den boshaften, der Natur feindlich gegenüberstehenden Magister Tinte als Hauslehrer auf den Hals hetzen, gilt nicht nur als einer der literarischen Höhepunkte der Romantik, sondern es ist auch voller für Kinder nicht ganz einfach zu durchschauender Allegorien und Skurrilitäten. Im Wald treffen Christlieb und Felix das „fremde Kind“, den Sprössling einer Feen-Königin. Das fremde Kind soll guten Kindern Gutes tun und wird ebenso wie später Felix und Christlieb von dem Gnomen-König Pepser verfolgt. Wen wundert’s, dass der verhasste Magister Tinte und der gefährliche Pepser eine und dieselbe Person sind, die sich im übrigen gelegentlich auch in eine eklige Fliege verwandelt. Gemeinsam mit ihrem Vater erledigen Christlieb und Felix die Pepser-Fliege-Tinte. Das bekommt ihnen und ihrer Mutter finanziell nicht gut, aber das fremde Kind erscheint zum Schluss noch einmal und stellt sicher, dass Christlieb und Felix bis zum Ende ihrer Tage arm, aber glücklich (und vermutlich ohne Tintes fragwürdige Geistesbildung) ihr Leben fristen.

Wahlkampftaktisch betrachtet steckt also in Hoffmanns Märchen eine Menge rot-rot-grünen Gedankenguts – beim Düsseldorfer Schauspielhaus ist es aber das Illusionistische, nicht das Politische, das im Vordergrund steht. Und dieses Illusionistische wird von den Schauspielern und vom Bühnen- und Kostümbild ungeheuer phantasievoll in Szene gesetzt, wobei diese das fast schon Surrealistische der Hoffmannschen Schauerromantik recht genau treffen. Wunderbar die Schattenrisse von Schmetterlingen, Vögeln und anderen Waldbewohnern – durch die weiße papierene Wand können die kleinen Zuschauer beobachten, wie diese Theatertricks entstehen. Toll die „Spielsachen“, die die Kinder von den dekadenten Verwandten mitgebracht bekommen – Anna Kubin als Aufziehpuppe kann man auch als Weihnachts-Deko fürs Karstadt-Schaufenster verpflichten, Gabriel von Berlepsch als Soldat mit Zielscheibe vorm Hut ironisiert die alte Vorstellung von einer Zinnsoldatenarmee. Das fremde Kind entpuppt sich aus einer Käfer-Larve; Blütenstaub wird mit Konfetti dargestellt, und ganz allerliebst ist Gabriel von Berlepsch als Hund. Gregor Kerkmann begleitet die 80minütige Aufführung mit Kontrabass und Gitarre. So werden die zuschauenden Kinder schnell in eine Welt der Phantasie und der Illusion versetzt, der sie gegen Ende offenbar vollständig verfallen.

Wenn man deren Reaktion als Erwachsener mit wachsendem Vergnügen beobachtet, kommt man allerdings zu dem Schluss, dass es mit dem grünen Gedankengut nicht gar so weit her ist: Mit Artenschutz haben die jungen Zuschauer nicht viel am Hut. Die Pepser-Tinten-Fliege, gruselig und gefährlich ebenfalls von der großartigen Betty Freudenberg gespielt, ist ein ziemlich einzigartiges Exemplar auf diesem Planeten und ideologisch sicher schützenswerter als der Juchtenkäfer im Stuttgarter Schlosspark, aber was schreien die Kinder? „Schneid‘ sie durch!“, schallt es so brutal wie erbarmungslos von den Rängen! Dass die Kleinen beim spannenden Kampf gegen die Achse des Bösen nicht auf die Bühne stürmen, um den Kindern und ihrem Vater zu helfen, grenzt fast an ein Wunder. Sie rufen, versuchen den Schauspielern zu helfen, pusten aus Leibeskräften die Fliege gegen die Wand – selten sah man in letzter Zeit derart mitfiebernde, vollkommen in die Welt des Märchens entrückte Kinder im Theater.

Natürlich gewinnen Christlieb und Felix den Kampf. Jonas Anders spielt sowohl den Vater als auch das fremde Kind – im Märchen stirbt der Vater, und die Familie stürzt zunächst ins Elend, bevor das fremde Kind ganz zum Schluss dennoch alles zum Guten wendet. Durch die Doppelrolle muss sich in Düsseldorf der Vater quasi auf der Bühne in das fremde Kind verwandeln – Jonas Anders verkörpert die gute Macht, und seine Doppelrolle hat so vielleicht eine symbolische, das Vertrauen der kleinen Zuschauer stärkende Funktion. - Zu murren gibt’s da jedenfalls wenig – die Schauspieler und die Regisseurin haben die Seele des Hoffmannschen Märchens gefunden und die Seele der Kinder erreicht.