Bilder wie im Stummfilm
Zwölf Schauspieler, ein Musiker, zwölf Stühle auf der sonst leeren Bühne im Neusser Globe-Theater und einige Minuten Schweigen, während dessen sich die Akteure mit geschlossenen Augen in ihre Rollen einzufühlen begannen. So fing jetzt beim Shakespeare-Festival die Inszenierung des grausig-brutalen Titus Andronicus in der Fassung des aus Hongkong angereisten Ensembles des Tang Shu-wing Theater-Studios an. Die Truppe von Regisseur Tang Shu-wing begeisterte das Publikum. Am Ende gab es minutenlangen Beifall und stehende Ovationen für einen grandiosen Theaterabend in chinesischer Sprache.
Schon der Beginn der gut zweistündigen Aufführung war stark. Die zehn Männer und zwei Frauen verwandeln sich vor den Augen des Publikums in die zu spielenden Figuren. Die Kostüme erinnern an Uniformen. Sie sind weiß, grau und schwarz. Und noch auf den Stühlen hockend oder stehend, beginnt Shakespeares blutigstes und zynischstes Stück. Es erzählt die Geschichte des römischen Geldherrn Tituts, der mit seinen Söhnen und ihren gotischen Gefangenen von einem Krieg zurückkehrt. Unter den Gefangenen ist auch Tamora mit ihren Söhnen. Während Kaiser Saturninus Tamora zur Ehefrau nimmt, vergewaltigen und verstümmeln ihre beiden Söhne Titus’ Tochter Lavinia, töten den jüngeren Bruder des Kaisers und schieben zwei von Titus’ Söhnen die Schuld in die Schuhe.
Roter Lippenstift und rote Handschuhe stehen für die abgeschlagenen Hände und die abgeschnittene Zunge von Lavinia. Ihr stummer Schmerz sowie die Trauer und das Entsetzen im Gesicht von Vater, Bruder und Onkel gehen dem Zuschauer an die Nieren, so wahrhaftig sind sie. Keine Spur von falscher Theatralik. Dafür steht der 1959 geborene Regisseur, der für seinen körperlichen und minimalistischen Stil bekannt ist. Auch die beiden Söhne von Titus werden geköpft, obwohl der intrigante Mohr Aaron versprochen hatte, sie würden freigelassen, nachdem Titus sich selbst die linke Hand abschlagen würde.
Wut, Hass, Mordlust aber auch unendliche Zärtlichkeit, Liebe, Vertrauen und Rachegelüste zeichnen sich in den Gesichtern der Schauspieler ab. Fast glaubt man, in einem schwarzweißem Stummfilm zu sitzen oder einen Samurai-Film von Akira Kurosawa zu erleben. Die Ästhetik in diesem Titus Andronicus ist überwältigend. Wie da mit Mimik, Gebärden und Atmung gespielt und der Text vermittelt wird, ist grandios und macht die Inszenierung sicherlich zu DEM Höhepunkt des diesjährigen Shakespeare-Festivals in Neuss. Auch die leisen Live-Klänge einer Kniegeige, einer Trommel und einer Flöte verstärken die Handlung auf der Bühne und machen sie verständlich.
Auch die beiden Mörder und Vergewaltiger sind genial. Ihre Gesichtszüge zeigen die Lust am Mord und am Verstümmeln. Als es Lavinia gelingt, die Namen ihrer Peiniger mit einer Holzstange auf den Boden zu schreiben, geht das Töten weiter. Nun ist Titus an der Reihe. Er rächt Tochter und Söhne dadurch, dass er Tamoras Söhne töten lässt und sie ihrer nichtsahnenden Mutter und dem Kaiser als Speise auftischt. Titus selbst trägt in dieser Szene eine Küchenschürze. Auch hier kein Tropfen Blut und doch schnürt einem allein der Gedanke an ein solch kannibalisches Mahl den Hals zu.
Beim Showdown "erlöst" Titus seine Tochter durch einen Messerstich und ersticht auch Tamora, bevor er selbst vom Kaiser getötet wird, der wiederum von Titus Sohn Lucius erstochen wird. Und auch dieses Gemetzel erfolgt mit einem hohen Grad an Stilisierung. Hier wird nicht lange, vielmehr auf der Stelle gestorben. Am Ende dann wird Lucius zum neuen Kaiser erklärt. Das Stück ist aus und die Schauspieler stehen wie am Anfang mit geschlossenen Augen auf der Bühne. Ihre Hände kreisen langsam umeinander und man hat als Zuschauer das Gefühl, die Darsteller würden sich auf diese Weise aus ihrer Rolle verabschieden. Auch dieses Schlussbild ist wunderbar.