Einen Kopf größer als mein Vater
Kunst tritt ins Wechselspiel mit Literatur, Visualität mit Sprache und Musik: das ist Theater. Faszinierend wird es dann, wenn sich diese Elemente collagenartig fantasievoll zu einem Gesamtwerk verbinden wie beim Theaterprojekt der Klasse 8a der Rudolf-Steiner-Schule Schloss Hamborn. Deren Werk Herr der Diebe hatte seine Uraufführung bei den 16. „Theatertagen Europäischer Kulturen“ in Paderborn und bildete den Auftakt des Festivals.
Die Inszenierung besteht aus zwei Handlungsebenen: Die erste umrahmt die eigentliche Handlung. Hier sprechen eine Dichterin und eine Künstlerin in gehobenen Sätzen (inspiriert von Michelangelo) über die Entstehung und Kraft von Kunst zwischen Traum und Wachsein, zwischen Nacht und Tag – „an den Rändern des Schlafes“. Die Künstlerin erschafft vier Fabelwesen (Einhorn, Seepferd, geflügelter Löwe, Wassermann), die fortan stumm die Bühne bevölkern und eben gerade das bedeuten, was auch über die kunstvollste Sprache hinausgeht, was unsere erwachsene Sprach- und Vorstellungskraft übersteigt und doch so einfach scheint: die Welt der Fantasie. Und diese Welt ist die Domäne der Kinder.
Doch wie bewahren wir das Kind in uns? Wie schützen wir Kindheitsträume und -räume vor den räuberischen Erwachsenen? Von diesem Kampf der Generationen zwischen Wirklichkeit und Fantasie erzählt die zweite Handlungsebene nach dem gleichnamigen Roman der erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke. Ort der kindlichen Fantasie ist ein Venedig, das irgendwo zwischen Renaissance und Jetztzeit angesiedelt ist. Hierhin flüchten die beiden Geschwister Bo (spritzig, vorlaut und naseweis der vor allem nach der Pause völlig losgelöst und frei spielende kleine Lukas Passoth) und Prosper (näselnd, nachdenklich und gutmütig Michel Heinkelein) nach dem Tod ihrer Mutter vor Tante Esther (Emely Hofmann als umwerfend arrogante Zicke) und Onkel Max Hartlieb (unterm Pantoffel Julian Urban), weil sie fürchten, von diesen voneinander getrennt zu werden. Unterschlupf finden sie bei einer Bande von Waisenkindern, die an einem Ort haust, der wie kein anderer für Sehnsüchte und Träume steht: in einem verlassenen Kino. Auf dessen Leinwand, auf die mal die Weltkugel, mal Elefanten oder venezianische Impressionen projiziert werden, befindet sich eine Tür, durch die die Kinder auf einer Leiter hinab in ihr Versteck klettern. Ins Innere kommt nur derjenige, der das Passwort kennt.
Scipio, ihr geheimnisvoller und gleichaltriger Anführer, der sowohl Kumpel als auch Vorbild ist, bringt die Kinder mit dem Erlös von Beutekunst durch, die im Trödelladen des etwas feisten und sehr typenhaft dargestellten Barbarossa in Geld umgewandelt wird. Marlene Hüttemeyer mit rotem Bart und nach hinten gekämmter Pavarotti-Mähne ist ein kleinkrimineller Filou, wie wir ihn von südeuropäischen Märkten und Basaren kennen. Barbarossa, der Erwachsene, kehrt die Autorität heraus, geht jedoch am Ende auf die Preise der Kinder ein. Er ist es auch, der Scipio den Auftrag übermittelt, einen hölzernen Flügel aus einem Haus zu stehlen.
Der Auftrag kommt von einem mysteriösen Conte. So mysteriös wie dieser ist die Szene der Auftragsübermittlung. Hinter einem transparenten Vorhang, untermalt mit sphärischer Musik unterhalten sich der erwachsene Conte und das Kind Scipio über den Auftrag. Beide finden, dass „für unser Geschäft Alter keine Rolle spielt“. Hier also sind Erwachsene und Kinder Geschäftspartner auf Augenhöhe. Doch sonst geht von der Welt der Erwachsenen nichts Gutes aus. Denn längst haben die Hartliebs den Detektiv Victor Getz beauftragt, Bo und Prosper zu suchen. Nach anfänglichen, etwas kolportagehaften Szenen, in denen sich Jannik Studinskis Getz in immer neuen coolen Verkleidungen an die Kinder heranschleicht, wird er von ihnen enttarnt und schließlich, als er das Kino-Versteck aufgespürt hat, zum gefesselten Prometheus: Die Kinder nehmen ihn gefangen, doch er freundet sich mit ihnen an. Weil ihm Tante Esther und Onkel Max zu arrogant und kinderfeindlich sind, aber nicht zuletzt auch deshalb, weil der Detektiv selbst ein Kind geblieben ist: Seine schrillen Verkleidungen, seine Neugier und Spiellust (in der Rolle eines Journalisten etwa) und seine Schildkröte Lando, die er überallhin mitschleppt, machen aus ihm eine skurrile, witzige und kindgerechte Figur.
Er ist es auch, der der eigentlichen Identität Scipios auf die Schliche kommt: Denn Scipio ist nicht nur der in einen schwarzen Mantel gehüllte, hinter einer Maske verborgene Räuber, sondern auch der recht bieder wirkende, verängstigt unter strenger Fuchtel stehende Sohn eben jenes reichen Venezianers Dottore Massimo, aus dessen Haus die angeblich gestohlenen Reichtümer stammen. Auf beeindruckende Weise gelingt es Joshua Sommer als Scipio, unterschiedlichste Seelen- und Gemütszustände zu verkörpern. Klar, dass die Kinder wütend auf ihren Anführer sind. Scipio muss sich nun emanzipieren: gegenüber seinem Vater und gegenüber seiner Waisen-Gang. Er will daher nichts lieber als einen Kopf größer als sein Vater und endlich erwachsen sein.
Vorab: die Kinder siegen. Zwar werden die beiden Brüder getrennt, die Hartliebs kommen ihnen durch eine Flugblattaktion auf die Schliche und nehmen Bo mit sich. Doch wenn Bo während eines Restaurantbesuches in einer slapstickartigen Szene ‘rumzappelt, seinem Oheim die Speisekarte entreißt, sich und andere mit Spaghetti bewirft und am Ende den Tisch umwirft, ist im wahrsten Sinn Großreine gemacht und der Spaß am Spiel in dieser Inszenierung auf einem Höhepunkt. Die Kinder siegen, weil sie sich die Kraft der Fantasie und eines teilweise anarchisch anmutenden Humors bewahrt haben. Und weil sie Charme haben, der auch Ida Spavento, die Besitzerin des geheimnisvollen Flügels, den sie rauben wollen, in ihren Bann zieht. Der Flügel war einst Teil eines Löwen, der mit den vier anderen auf der Bühne anwesenden Fabelwesen auf einem mysteriösen Karussell stand, auf dem schon ein paar Runden aus Kindern Erwachsene und aus Erwachsenen Kinder machen. Die Kinder entdecken diesen Flügel, und Scipio verwandelt sich am Ende in seinen Vater.
Die Inszenierung des Pädagogen Torsten Brandes arbeitet multimedial mit allen Mitteln des heutigen modernen Theaters: mit Live Musik und Video, geschickten Licht-Spielen, verschiedenen Sprachebenen und Musik aus der Renaissance und italienischen Canzoni. Es gibt einen einheitlichen Bühnenraum und ein sparsames Bühnenbild; dennoch wirkt das Ganze opulent. Es ist die Opulenz, die aus fantasievoller Liebe zum Detail erwächst. Das beginnt mit den Musikern im Orchestergraben, der an die Form einer venezianischen Gondel erinnert, geht weiter mit der Renaissancemusik, die mal als Kommentar des Geschehens, mal als eigenständiges Element sich einfügt. Auf der Bühne finden sich Requisiten, die mehrfunktional bespielt werden: die zwei Häuser im venezianischen Stil, die mal als Haus, mal als Detektei oder Trödelladen fungieren und in denen sich jede Menge detailreicher zeitloser Accessoires befinden. Auch die Kostüme, eine Mischung aus Renaissance-, Typen- und ganz viel Alltagskleidung, folgen dieser Zeitlosigkeit. Opulent sind auch die vielen Gruppenszenen der 32 Schauspieler, die mal als Chor, mal als Passanten Venedigs fungieren. Natürlich gibt es auch Nebelschwaden, wenn Scipio auf dem geheimnisvollen Karussell seine Verwandlung durchlebt.
Um diesem ganzheitlichen, abendfüllenden Werk auch eine möglichst ganzheitliche Betrachtung anheim fallen zu lassen, ein paar Kritikpunkte zum Schluss: Der oft sehr schwierig zu entschlüsselnden, etwas manierierten Zwischentexte durch die Künstlerin und der Bildhauerin hätte es nicht bedurft. Auch wenn sie den Gegensatz zur Alltagssprache auf der Bühne bilden, das Fantasievolle, das Wesen der Kunst reflektieren und herausheben, hätten einige wenige verständlichere Sätze ausgereicht. Auch viele der Erzählerpassagen wirken überflüssig. Die Handlung und Stimmung erklärt sich auch so durchs Stück. Ansonsten sind nun viele Sätze geschrieben, aber das Wechselspiel dieser Aufführung aus Visualität, Sprache und Musik verdient es, eher gesehen als beschrieben zu werden.