Umsturz versus Anpassung
Ganz kurz seien die Vorgeschichte und das Geschehen um Elektra rekapituliert: Agamemnon, der König von Mykene, und seine Gattin Klytämnestra hatten vier Kinder: Iphigenie, Chrysothemis, Orest und Elektra. Die Götter waren in Griechenland offenbar schon vor mehr als 3000 Jahren korrupt: Um dem Feldherrn Agamemnon bei seinem Schlachtzug gen Troja günstige Winde zu verschaffen, forderten sie das Opfer seiner Tochter Iphigenie. NRW-Abiturienten des Jahrgangs 2013 wissen von Goethe, dass Iphigenie das Opfer überlebte – Klytämnestra hatte davon keine Ahnung, als Agamemnon siegreich aus dem Trojanischen Krieg zurückkehrte. Nach wie vor verübelte sie ihrem Gatten die vermeintliche Tötung der gemeinsamen Tochter; außerdem hatte sie wohl längst ein Knösken mit Aigisthos. Kaum tauchte der Feldherr also wieder bei Hofe auf, wurde er von den beiden um die Ecke gebracht. Elektra schwor Rache und will bei Beginn des nach ihr benannten Dramas nun ihrerseits den neuen König Aigisth töten (und Mutter Klytämnestra gleich hinterher), glaubt hierzu jedoch die Hilfe ihres Bruders Orest zu benötigen, der ebenfalls auf der Todesliste gestanden hatte und derzeit auf der Flucht ist. Chrysothemis traut sich den Mord nicht zu und lehnt eine Hilfestellung ab. Angefeuert durch das Orakel von Delphi kehrt der in Mykene inzwischen totgesagte Orest nach fünfzehn Jahren zurück und killt Mutter und Stiefvater.
Soweit die griechische Mythologie, soweit zum Beispiel Sophokles. In seinem Drama Szerelmem, Elektra („Elektra, Geliebte“), das die Dresdner Amateurtheater-Truppe „Spielbrett“ zum Ausgangspunkt ihrer Inszenierung genommen hat, folgt der im Jahre 2007 verstorbene ungarische Dramatiker László Gyurkó weitgehend der Vorlage der alten Meister, verschärft aber die Liebesgeschichte zwischen Orest und Elektra und erfindet einen verstörenden neuen Schluss.
Die Aufführung von „Spielbrett“ spiegelt die politische Lage in Mykene im 2. vorchristlichen Jahrhundert im Heute und in der jüngeren Geschichte. Anklänge an die Vor- und Nach-Wendezeit in der DDR sind unübersehbar, aber auch allgemeingültige Fragen zum Verhalten in weichen oder harten Diktaturen sowie zur (Re-)Etablierung einer demokratischen Gesellschaft werden verhandelt. Das Geschehen findet statt am Tag des „Wahrheitsfests“ – es ist ein großer Marketing-Event der Aigisthos-Diktatur, auf dem das Volk reichlich zu essen und zu trinken bekommt. Ganz nebenbei hat der Diktator das Gesetz erlassen, dass an diesem Tage jeder Bürger die Wahrheit sagen darf, ohne dass ihm dafür die Verhaftung droht. Welch phänomenale Großzügigkeit - doch wenn man sie richtig verkauft, bekommt eine solche Zusage den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Aigisth ist bei den Dresdnern ein biederer, leicht sächselnder Zyniker der Macht, und sein Wahrheitstag erscheint ohne Risiko, zumal er es doch selbst ist, der die Gesetze erlässt. Doch als überraschend Orest auftaucht, muss er erkennen: „Das Gesetz befiehlt, nicht der König.“
Elektra ist die selbsternannte leidende Schmerzensfrau; als einzige ist sie in ein antikisierendes dunkelgraues Gewand gekleidet; ihr Gesicht ist weiß geschminkt wie in der griechischen Tragödie. Mit ihrer Lebenseinstellung und ihrer Rigorosität neigt sie zur Selbstkasteiung. „Kennst du einen einzigen Menschen, der friedliches Leben eintauschte gegen tödliche Gefahr?“, fragt Aigisthos sie, und sie antwortet: „Manchmal sehe ich in einen Spiegel, um einen solchen Menschen zu sehen.“ Gerechtigkeit, Freiheit, Strafe für zuvor begangene Schandtaten fordert sie ein (für den Mord an Agamemnon, aber auch für in der ersten Szene Elektras angesprochene Folterungen). Sich zu binden an einen Mann, an eine Familie lehnt sie ab, bis dass Aigisth getötet sein wird. Sie wirkt bisweilen wie eine fundamentalistische Priesterin der Rache, der Strafe und der Qual.
Ihre Schwester Chrysothemis versucht sie davon zu überzeugen, dass Anpassung an das System ihr kleines Glück sichern kann – die „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“, wie die Spielbrett-Leute es ausdrücken. In der Aufführung von Regisseur Ulrich Schwarz weigert sich Chrysothemis nicht aus Feigheit, den Vatermord zu rächen, sondern aus Überzeugung. In ihrem edlen weißen Abendkleid erscheint sie eindeutig der Elite des Landes zugehörig – so etwas gibt man doch nicht auf, nur um einen Mord zu sühnen. Zumal Aigisth offensichtlich dabei ist, eine Art Wohlstandsdiktatur aufzubauen, in der es den Menschen gut geht und „sie morgens aufstehen und genau wissen, wie ihr Tag verläuft.“ – Klar, in einer Diktatur ist jede Veränderung schädlich für die Machthaber. Und das Volk kommentiert ironisch: „Das ist die Lektion zu lernen: Menschen, was ihr tun dürft, das ist gut für euch. Und was ihr nicht tun dürft, das ist schlecht für euch.“ – Eine verdammt doppeldeutige Weisheit …
Die Ironie wird dem Volk noch vergehen. Und zwar nach dem Umsturz. Schnell breitet sich da der in Deutschland bekannte Nachwende-Pessimismus aus. Nach kurzem Jubel des am Umsturz kaum beteiligten Volkes schleichen sich Zweifel ein: Ist nicht das Neue dasselbe wie das Alte, nur neu verpackt zu neuem (höherem) Preis? Veränderungen sind schlecht, hatte Aigisth gepredigt. Und jetzt gibt es Freiheit, gibt es Entscheidungsspielräume, gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Hat man das wirklich gewollt? „Je öder es um einen ist, desto mehr Freizeit hat man“, sinniert das faule Volk: „Man weiß zwar nicht, wohin mit der Freizeit, aber immerhin…“ – Ein trefflicher Seitenhieb auf die Meckerei und den mangelnden Gestaltungswillen auch vieler der in 1989 Befreiten. Chrysothemis aber, verunsichert durch den Wechsel und erneut anpassungswillig („Wenn ihr es wollt, freue ich mich“), hat auch einen Satz zum Nachdenken für die Wendegewinner, für das neue System, das den alten Staat übernommen hat: „Ich will so leben, wie ich will. Ihr wollt, dass alle so leben, wie ihr es wollt.“ – In diesen beiden Szenen ist die gesamte Problematik der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten Anfang der 90er Jahre treffend beschrieben…
Noch manches ließe sich beschreiben und zitieren; auch an die Arabellion denken wir das eine oder andere Mal, an Rumänien gar. Das 1968 uraufgeführte Stück von László Gyurkó hat in der Spielfassung der Dresdner Bühne nach wie vor hohe Aktualität. Die Liebe zwischen Elektra und Orest muss noch angesprochen werden – solange der Bruder nur ein Sehnsuchtsort ist, heißt es stets: „Elektra ist Orest, und Orest ist Elektra“ – da gibt es eine symbiotische Beziehung zumindest von Seiten der Schwester. Dass die – im Gegensatz zu ihrem Bruder – daraus später eine echte inzestuöse Ehe machen will, ist eine der Zuspitzungen Gyurkós. Am Ende aber heißt es: „Elektra ist Elektra, und Orest ist Orest“: Es kommt zu einem existenziellen Konflikt zwischen dem Geschwisterpaar, weil Orest eine Art Amnestiegesetz will, mit den Bürgern des früheren diktatorischen Staates und wohl auch mit seiner schuldig gewordenen Mutter Klytämnestra in Frieden und Harmonie leben möchte, während Elektra weiter auf Rachefeldzug gehen will. Es sind alternative Angebote, mit der diktatorischen Vergangenheit umzugehen – und erneut wissen wir aus der deutsch-deutschen Geschichte, dass diese Fragen bis aufs Messer diskutiert wurden und es bis heute keine eindeutigen Antworten darauf gibt, welche Alternative die bessere gewesen wäre. Manchmal eben ist Augenmaß wichtiger als ein Gesetz.
Ulrich Schwarz und sein Team haben das ohnehin schon politisch fesselnde Stück unterhaltsam inszeniert. Der Chor, hier das in rote Clowns-Kostüme gesteckte und anstelle von Nasen mit Schweine-Rüsseln ausgestattete Volk („eine Herde Schweine, ein Pack“, sagt Aigisth über seine Untertanen, und Orest ergänzt: „Und wer kein Schwein sein will, muss sterben?“) – dieser Chor sorgt für die komödiantischen und ironischen Momente – und zeigt auf so lustige wie nachdenklich machende Weise die Trägheit der Masse, ihre Verführbarkeit und Lenkbarkeit auf. Mandy Menzel hat zudem eine Reihe von satirischen Songs geschrieben, mal im Brecht-Stil, mal kabarettistisch und mit beißender Ironie anhand brandaktueller Beispiele des Menschen Hörigkeit gegenüber dem Staat kommentierend. Trotz recht heterogener schauspielerischer Leistungen sehen wir hervorragendes, nachdenklich stimmendes politisches Theater.