Das Herz ist ein Muskel in der Größe einer Faust
Wow! Das war der Aufreger bei den Theatertagen Europäischer Kulturen in Paderborn! Wenn noch mal einer sagt, der Begriff Amateurtheater fühle sich spießig an, den schicke man zum spinaTheater nach Solingen. Interventionen seitens des Publikums hatte das Ensemble gefordert – und die kamen: Proteste, vorgetragen in wohl erwogener Rede, mit anschließendem wütendem Ausmarsch einer Zuschauerin (einer Regisseurin übrigens einer anderen, bereits in theater:pur positiv rezensierten Aufführung!), flehentliche Bitten um Abbruch bestimmter Szenen, kritische Anmerkungen zum Stil der Aufführung. Standing Ovations, grenzenloser Jubel und Pfiffe. Und ein weinender Zuschauer, der den seelischen Schmerz nicht aushalten konnte. Anschließend Diskussionen bis weit nach Mitternacht und kontroverse Meinungen in der Redaktion der Festival-Zeitung, der anzugehören der Schreiber dieser Zeilen das Vergnügen hatte. Auf der Bühne: ein Ensemble von neun äußerst sympathischen Schülern im Alter zwischen 16 und 21 Jahren, vorwiegend Kinder aus gutbürgerlichem Hause.
Die bieten uns einen von Occupy inspirierten wutbürgerlichen Rundumschlag gegen alles, was unsere Welt ausmacht: den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und die Massentierhaltung bei Legehennen, Facebook und McDonald’s, Angela Merkel und Nintendo, Waffenschieber, Schwarzgeld und Obama. Das könnte Satire sein, ist es aber nicht, wenn nicht gerade ein fiktiver Kevin „Freiheit für Tibet und Selbstjustiz bei Kindermördern“ fordert: Es scheint alles ernst gemeint. Ein Stück über Demokratie und Revolution hatten die spinaT-Kinder ihr Stück genannt. Wenn man das ernst nimmt, ist es mit der Demokratie nicht weit her, und die Revolution läuft wie in vielen Ländern der Arabellion – anarchisch wutbürgerlich, aber ohne Ideen für die Zukunft. Lösungen bieten die jungen Schauspieler nicht an; die differenzierte Analyse oder die Diskussion über Für und Wider alternativer Politik-Konzepte ist ihre Sache nicht. Sie schreien ihre Wut hinaus – laut, radikal, mit einer Nähe zum Anarchismus.
Und mit darstellerischen Mitteln, die zum Avanciertesten gehören, das man in dieser Spielzeit auf einer NRW-Bühne sah. Deren Radikalität keine Grenzen zu kennen scheint. Ein Mädchen lässt sich ohrfeigen, bis dass das Publikum eine Summe von mindestens € 30,00 gespendet hat – für weiß der Teufel welches linke Weltverbesserungs-Projekt. Laut hallen die Ohrfeigen durch die Arena – da gibt es kein Fake, da wird geschlagen, was das Zeug hält. Die Damen links von mir und in den Reihen vor mir werden völlig raschelig und zerren hektisch die Münzen und Scheine aus dem Portemonnaie, um die Qual so schnell wie möglich zu beenden. „Jetzt machen wir weiter bis Hundert“, sagt Moderator Jonas Sassin ungerührt – und die erste Zuschauerin sprintet zum Mikrophon, klagt die Ausbeutung der Schauspieler und des Publikums an. Später ziehen sich alle Schauspieler Plastiktüten über das Gesicht und lassen sie am Hals mit Klebeband zuschnüren – erneut schreiten Zuschauer ein und fordern den Abbruch. Ehrenwort: Einige eben dieser Zuschauer haben am Ende stehende Ovationen dargebracht. Ein Mädchen berichtet von einer Selbstverbrennung – und diese junge Schülerin steht da inmitten all des lauten Tohuwabohus ganz ruhig, ganz selbstbewusst und mit einem Gänsehaut erregenden Charisma und zündet sich ganz langsam eine Zigarette an – das ist erbarmungslos, das ist erschreckend, das ist angsteinflößend: und das ist ganz, ganz großes Theater. Im Fernsehstudio wird „Eine Runde Mitleid“ gespielt, mit bitterbösem Sarkasmus: ein jeder darf seinen Frust über eine Ungerechtigkeit auf dieser Welt ins Mikro rufen, und ein wüstes Durcheinander von großen und kleinen Problemen kommt zusammen: die Kleinkarierte Karo (Caroline Heiner) prangert das nutzlose Sterben von Pflanzen bis hin zum Raubbau am Regenwald an, die Mickerige Marie (Marie Stute, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet) regt sich über die armen Küken in der Massentierhaltung auf und die in der Tat ziemlich Andersartige Aylin (gepierct und mit fast über die Augen reichendem Pony Aylin Cam) hat sich die Kindersoldaten zum Thema genommen. Und rumms: stürmt eine bewaffnete junge Frau die Bühne, die von diesen Problemen nichts wissen will, eine Geiselnehmerin im Stile von Suhaila Sayeh, eine rattenscharfe Flintenbraut.
Rattenscharf ist auch, wie das Ganze gespielt wird. Nicht nur, dass die Sprechtechnik der blutjungen Schauspieler und Schauspielerinnen sich hinter keiner professionellen Theatertruppe verstecken muss: Die tanzen auch phantastisch! Gabriela Tarcha hat mit den Schülerinnen und Schülern hochprofessionelle, ungeheuer dynamische Choreographien erarbeitet; das Bühnenbild ist so einfach wie frappierend vielseitig nutzbar: Unzählige leere Pappkartons sind zu Beginn zu einer hermetischen Wand aufgeschichtet und stürzen als „WTC on 9/11“ ein, werden später zu Fluchtpunkten und Verstecken für die Akteure oder zur Metapher für das Chaos in der Welt. Lieder werden gesungen, moderne Arbeiterlieder und ein witziges, beißend satirisches „Vaterunser“ auf die Lebensmittelindustrie. „Das Herz ist ein Muskel in der Größe einer Faust“ von den „Früchten des Zorns“ bringt die klassenkämpferische Ideologie der jungen Truppe auf den Punkt.
In vielerlei Hinsicht erinnert die Inszenierung an die Aufführungen von Falk Richter – an seine (allerdings letztendlich nachdenklicheren und sich der eigenen Ratlosigkeit bewussten) radikalen Anklagen innerhalb seines Büchner-Projekts oder seine Zusammenarbeit mit der Choreographin Anouk van Dijk in Rausch am Düsseldorfer Schauspielhaus. Natürlich hat das junge Team nicht die Differenzierungsfähigkeit der doppelt so alten, europaweit renommierten Profis – aber die spinaT-Schauspieler sind, vielleicht ein Privileg der Jugend, radikaler als diese. Es ist Agitprop, was sie uns bieten; es wäre ärgerlich, hätten sie nicht diese künstlerische Überzeugungskraft, könnten sie nicht ihr persönliches Engagement so ungeheuer überzeugend ‘rüberbringen. Natürlich bleibt der politisch der Merkel-Steinbrückschen Mitte zuneigende Unterzeichner sitzen, wenn am Ende alle aufstehen sollen und ausrufen: „I‘m as mad as hell – I don’t take this anymore!“ Politisch ist da so manches ziemlich neben der Kappe. Aber aufgemischt hat uns diese Truppe, wie es weder Falk Richter mit seinem Büchner noch Hermann Schmidt-Rahmer in der Vorsaison mit Ulrike Maria Stuart am Schauspiel Essen vermochten – und die waren schon ziemlich gut darin. Die spinaT-Kinder haben uns aufgeputscht wie ich es in meinem langen Theaterleben selten erlebt habe.