My Batterien ne fonctionnent plus
Mir ist der Atem genommen ob soviel poetischer Atemlosigkeit. Wo beginnen?
Mit der Moderatorin. Sie fordert uns auf zu klatschen. Immer wieder. Denn der Applaus ist die Stimme des Publikums. Die Stimme zum Abstimmen. Sie bestimmt den Sieger. Zehn Klatsch-Stufen gibt es: Zehn ist Top, Null ist Flop. Doch Flops, ils n´existent pas ici. Und die Moderatorin ist kein Vorspiel. Sie ist Show. Ein eigener Beitrag: Witzig, charmant, spontan, poetisch und… mehrsprachig. Warum eigentlich speist uns das deutsche Fernsehen mit Sylvie van der Vaart und Michelle Hunziker ab, wenn wir auch Dominique Macri kriegen könnten?
Dann gibt es zwölf Poetry-Premieren. Zwölf junge Menschen aus Deutschland und Frankreich, die über Sprachbarrieren hinweg mit Worten formen, fabulieren, jonglieren, kämpfen, leiden… siegen. Jede(r) wird mit der höchsten Applaus-Stufe auf der Bühne empfangen. Auftritt: Miriam und Elisa. Mit Akkordeon. Eigentlich ein Slam-Regelbruch, aber einer, dem man gerne zuhört. Sie treten ans Mikrofon und beginnen - und schon befinden wir uns gedanklich auf einer Wiese. Es beginnt eine Bewegung der Gefühle: Miriam und Elisa erzählen vom sorglosen Daliegen, vom Einsamsein; dann ziehen sich plötzlich dunkle Wolken am Himmel zusammen. Was für ein Traum?! Er soll endlich enden. Und er endet mit dem Erwachen im Krankenhaus und der Einsicht: „Ich habe überlebt“.
Immer wieder geht es ums Wort, ums Schreiben und Lesen und um den Versuch, trotz der Mehrsprachigkeit die eigene Sprache zu finden. Und es geht um das, was über oder nach den Worten folgt. Sphären, die die Grenzen der Sprache sprengen, wohinter erst die Wahrheit zu finden ist. Die Welt der Musik? Des Gefühls? Der Liebe? Poesie und Melancholie bei den einen. Bei anderen wird die Poesie zur Performance. Elisa animiert uns mit einem Pain au chocolat in der Hand, in regelmäßigen Abständen refrainartig ein „Oh chocolat“ zu wiederholen. Sie formt dabei ihre Worte und Sätze sinnlich genussvoll als hätte sie ein warmes, butterweiches Croissant auf den Lippen. Attention: Cliché! Doch davon gibt es in den Texten glücklicherweise wenig.
Die Sprachen wechseln, aber die Intensität bleibt. Manchmal wird fast simultan Deutsch, Französisch und Englisch gesprochen. Ronja macht ihre Nervosität (wenn es denn wirklich eine ist) zum Programm der Performance. Bis drei wird gezählt, dann sollen wir alle ihr zulächeln. Dann verliert sie die Anspannung, wird locker. - Manche Texte sind witzig, deklinieren scheinbar Bekanntes so rauf und runter, dass es am Ende verfremdet erscheint und wir einen neuen Blick darauf gewinnen. Was will Kunst mehr?
Da ist zum Beispiel der 13. August. An diesem Tag werden wir ab jetzt aller Linkshänder gedenken, die ständig gezwungen sind, in unserer „rechten“ Welt umzudenken. Sie sind - einem wichtigen Thema der diesjährigen Theatertage entsprechend – gesellschaftlich exkludiert, denn jedes Küchengerät, jedes Handwerkszeug ist für Rechtshänder designt.
Immer wieder geht es um Mehrsprachigkeit, aber es gibt auch rein französische Texte: rhythmisch, atemlos, leidenschaftlich und mit Pausen vorgetragen. Es herrscht Lebendigkeit, Hoffnung, Schönheit in den Texten. Zwei der Texte beklemmen. Da ist Judith, die einen Raum mit einem Tisch mit einem farblosen Trichter beschreibt, der alles Schöne wegnimmt und ein Gefühl hinterlässt, als gehe die Sonne für immer unter. Dieser Trichter bewegt sich gen Boden: Die Scheibe als Schicksal und die nach unten drückende Kraft der menschliche Verstand. Dagegen hat Lena „dauerhafte Gänsehaut“, die mal eine Symbiose zwischen Ich und Haut bedeutet, mal Mantel der Sicherheit, aber mal auch Zwangsjacke und Blutegel ist. Wer will hier wen abstreifen? Wer hat die Kontrolle? Und wen meinen wir, wenn wir sagen „ich“: Mich oder die Haut? - Colie konstatiert sogar an einer Stelle: „My Batterien ne fonctionnent plus.“ Mais jusqu’à ce temps il y a beaucoup de temps pour écrire.
Und zum Schluss entert sie noch einmal für längere Zeit die Bühne: die Moderatorin. Und mit ihr der Leiter dieses Workshops. Gemeinsam geben sie noch einmal Klaviermusik und ein Stück Leidenschaft und Kampf als Poesie. Zwölf verschiedene junge Menschen, verschiedene Temperamente, befasst mit der wohl einsamsten Sache der Welt: dem Schreiben. Aber man hat das Gefühl, hier agiert ein Ensemble. Und dieses Ensemble trägt denn auch den Sieg davon. Es gibt keine Einzel-Sieger. Atemlos erwache ich aus wechselnden Traumwelten, Bildern und Wortklängen und werde das Gefühl nicht los, einer guten Theateraufführung beigewohnt zu haben.