Ansichten eines Clowns im Paderborn

Augenblicke gesammelt

„Melancholie und Kopfschmerz“ seien die beiden Leiden, mit denen er von Natur aus belastet sei, sagt der Ich-Erzähler Hans Schnier in Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns. Schnier ist ein Sohn aus reichem Elternhaus, der sich der Heuchelei und dem dekadenten und bequemen Luxusleben der Wohlstandsgesellschaft verweigert und seinen Lebensunterhalt als Clown verdient. Als seine langjährige Geliebte Marie ihn verlässt, verliert er den Halt: Melancholie und Kopfschmerz steigern sich, und das vorübergehend wirksame Mittel dagegen heißt: Alkohol.

Und so müssen wir Jurij Sacharow, der den Clown in der Inszenierung des Theaters Mimikrija aus Tyumen spielt, erst einmal wecken, bevor es losgehen kann. Die beiden sympathischen Poetry Slammerinnen vom Nachmittag, die er sich zufällig ausgesucht hat, um quer über ihnen seinen Rausch auszuschlafen, können sich in ganz anderen Slam-Disziplinen üben: Slam in the face! Und schon ist Jurij wach. Hat noch nix geleistet, aber fordert Applaus ein. Er kriegt ihn schließlich überreichlich, anders als Schnier im Roman, der für seinen misslungenen Auftritt in Bochum nicht einmal das vereinbarte Honorar erhält. Nehmen wir’s vorweg: Jurij Sacharow und die gesamte Truppe von Regisseurin und Theaterleiterin Lubow Leschukowa sind nicht nur das Honorar wert, sondern sie würden in der freien Wirtschaft einen fetten Sonderbonus wegen signifikanter Übererfüllung der vereinbarten Leistungsziele erhalten.

Bölls Clown ist ein zunehmend lebensuntüchtiger Melancholiker. Lustig ist dieser Clown nicht, und auch wenn die Berufswahl aus Sicht Bölls natürlich eine symbolische Bedeutung hatte, finden sich im Roman keinerlei Zirkusmotive. Leschukowas Aufführung dagegen stützt sich genau darauf: auf Zirkus, auf Slapstick, auf Pantomime. Aber auch auf Musik und auf schwarzen Humor. Das ist lustig wie bei guten Clowns im Zirkus – vordergründig lachen wir über die Ungeschicklichkeiten und die Kunststücke des Clowns; gleichzeitig spüren wir, dass hier ein unglücklicher Verlierer vor uns steht. - Episoden aus Heinrich Bölls Roman erleben wir kaum; im Grunde lebt die Handlung im Wesentlichen von der Selbstbeschreibung des Clowns auf den ersten zwei oder drei Seiten des Romans sowie von der Darstellung der bilateralen Beziehungen zwischen dem Protagonisten und seinen Eltern, seinem Bruder, seiner Maria und einem Rivalen. Sprache spielt eine nur untergeordnete Rolle; dennoch erleben wir eine vielschichtige Charakterzeichnung und eine kleine Geschichte vom Niedergang eines Clowns.

Zunächst sind es noch harmlose Pantomimen, die wir sehen; eine Bahnreise, Straßenszenen, ein durch eine Pfütze fahrendes Auto, den Angriff eines Hundes, eine Busfahrt. Marie tritt auf, bei Maya Schulz eine Sängerin, die wunderschöne russische Lieder singt – immer in gebührender Entfernung zu unserer Hauptperson. Nur noch als ferne Erinnerung an seine große Liebe kann der Clown sie sehen, und während sie singt, tanzt Sacharow mit einer wunderschönen Puppe im langen roten Kleid – ein ungeheuer starkes und symbolhaltiges Bild in dieser ansonsten ganz in Schwarz-Weiß gehaltenen Aufführung. Es geht bergab mit dem Clown; Vater und Mutter werden um Geld angebaggert, es kommt zum Duell mit einem Rivalen, lange rote Papierstreifen sind eine zauberhafte Metapher für das Blut, das in Strömen fließt. Der Bruder des Clowns versucht diesen nicht mit sechs Mark und sieben Pfennigen wie im Roman zu retten, sondern mit seinem eigenen Herzen. Das aber gibt der Clown ihm zurück. Der Impresario oder Zirkusdirektor, bei Denis Kuzyakow ein etwas zwielichtig wirkender Stotterer, hält eine weinerliche Beerdigungsrede, und wir alle werfen weiße Blumen auf sein Grab. – Und schwupps steht da der totgeglaubte Clown, sammelt die Blumen ein und möchte sie Maria überreichen. Die dreht ihm schnöde den Rücken zu.

Wie Sacharow und seine Kollegen das spielen, ist hinreißend. Die weichen, melancholischen Augen, die verdrehten Bewegungen, das Weinen und das Wüten, das Aufmüpfige und das Unterwürfige, die herzzerreißenden poetischen Tänze mit der Puppe – all das ist von hoher Perfektion. Die aber noch übertroffen wird vom Zusammenspiel im Ensemble – insbesondere mit Denis Kuzyakow, der nicht nur den Zirkusdirektor spielt, sondern auch der grandiose Geräuschemacher ist. Mit unglaublicher Präzision sind die von ihm hergestellten kakophonischen Laute auf die Bewegungen des Clowns abgestimmt – und das, obwohl wir es zu einem erklecklichen Teil mit Improvisationstheater zu tun haben. Dmitri Schkell sitzt mit stoischer Ruhe an der Elektronik und ist für die Musik zuständig – und für die Übersetzung des gesprochenen Worts ins Englische. Treffend bemerkt die Theaterpädagogin und Theatertherapeutin Sandra Anklam in der anschließenden Publikumsdiskussion, dass Schkell mit seiner Übersetzungsarbeit geradezu eine eigene Figur erfinde. Wie ohnehin die Interaktion zwischen Clown und „technischer Unterstützung“, also vor allem Geräuschemacher und Übersetzer, von bestechender Raffinesse und Ironie ist: Bei aller handwerklichen Exaktheit bleibt stets Raum für Spontaneität.

Und die ist nicht nur von den Schauspielern, sondern auch vom Publikum gefordert. Wie peinlich ist es oft, wenn man als Zuschauer zum Mitmachen aufgefordert wird. Hier wird kurzerhand ein Bruder gekürt, ein Vater und eine Mutter, eine Geliebte und ein Rivale. Und die müssen agieren, was das Zeug hält! Besonders der Rivale legt gemeinsam mit dem Clown eine Nummer aufs Parkett, die sich gewaschen hat: Sie führt zum Duell, zu einer der witzigsten, aber auch der tragischsten Szenen des Abends. Es wird eine Mord- und Sterbeszene von shakespeareschen Dimensionen. Endlos. Und hilariously funny, voller Slapstick und voller Akrobatik. Thriller-Musik untermalt die Szene, die Scheinwerfer splittern, und da weder Clown noch Publikums-Joker allzu treffsicher sind, fällt auch schon mal anstelle des Gegners ein großer schwarzer Vogel vom Himmel. Zu kitschiger Hollywood-Musik haucht der russische Hans Schnier sein Leben aus. Und tanzt dann mit seinem Rivalen.

Wir wissen nicht, was passiert, wenn der zufällig aus dem Publikum gekürte Rivale nicht so phantastisch mitspielt (und auch nicht zu solchen sportlichen Leistungen fähig ist) wie in der gesehenen Aufführung. Aber wir haben erlebt, wie phantastisch und sensibel das gesamte Team den überforderten Zuschauern hilft, ihre Rolle zu verstehen – nahezu wortlos, nur mit Hilfe der Pantomime. Was wir wiederum nicht wissen, ist, warum das Mitspielen beim Mimikrija-Theater nicht peinlich ist – nach einhelliger Meinung sowohl der passiven als auch der gezwungenermaßen aktiven Zuschauer war es eher ein Spaß. Vielleicht wurde durch die Zirkus-Atmosphäre das Kind im Erwachsenen wach.

Am Ende seines Buches lässt Heinrich Böll seinen Clown sein berühmtestes Zitat sprechen: „Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke.“ Nach diesem intelligenten, schwung- und phantasievollen Abend wissen wir eines ganz genau: Diese Aufführung hat unserer aller Sammlung einige der bemerkenswertesten und schönsten Augenblicke unseres Theaterlebens hinzugefügt.