Wenn Zombies mit Prothesen winken
Millionen von Schülern haben sich schon an Friedrich Dürrenmatts vor mittlerweile 57 Jahren uraufgeführtem Besuch der alten Dame abgearbeitet. Damals wie heute ließ sich die Menschheit vom Götzen Geld korrumpieren, und in Zeiten turbokapitalistischer Gier, in denen nicht nur irische Banker fröhlich lachend ihr Institut vor die Wand fahren, über die Retter billige Witze reißen und dafür Millionen-Boni kassieren, hat die reichlich verstaubte Geschichte vordergründig wieder Aktualität: Klara Wäscher, einstige Geliebte von Alfred Ill und von diesem mit unehelichem Kind sitzen gelassen, fand ihr Glück im Puff, in dem sie sich notgedrungen verdingen musste: Sie lernte dort einen armenischen Milliardär kennen, kehrt nun als Rachegöttin und billionenschwere Witwe in ihr vermutlich längst unter Finanzaufsicht stehendes Heimatstädtchen zurück und verspricht Stadt und Bürgern die ultimative finanzielle Sanierung - vorausgesetzt, Alfred Ill wird getötet. Gerechtigkeit nennt sie das – verdammt archaisch, diese Moral, aber es ist ja was dran …
Klara Wäscher, die nun Claire Zachanassian heißt, übt dank ihres unermesslichen Reichtums zwar grausame Macht über die Welt aus, doch möchten wir auch nach dem glücklichen Ende ihrer Zeit im Freudenhaus nicht mit ihr tauschen. Nicht nur, weil wir so unsere Phantasien haben, was für eine Art neuer Russe wohl der armenische Milliardär war. Claire traf auch sonst so mancher Schicksalsschlag. Wir erinnern uns: Die stählerne Dame wurde nacheinander Opfer eines Autounfalls und eines Flugzeugabsturzes. Jedenfalls besteht Claire Zachanassian, als sie das von ihr heimlich, aber höchstpersönlich ruinierte Heimatdorf Güllen besucht, vor allem aus Prothesen.
In Sybille Fabians Inszenierung am Schauspiel Wuppertal ist sie da nicht allein. Behinderte, abstrus verdrehte Figuren sind sie alle, die Honoratioren der Stadt, die in einem bizarren Tanz mit Arm- und Beinprothesen aller Größen Claires Ankunft am Bahnhof feiern. Groteske, von der Schulter bis zum Fuß reichende hosenträgerähnliche Strings halten ihre zuckenden Körper zusammen; Haare wachsen den meisten kaum noch, und anstelle von Schlips und Kragen tragen sie altmodische Unterwäsche. Zombies sind sie alle, die zu schriller, wummernder Elektromusik irre Pantomimen und Tänze vollführen – Untote, Übriggebliebene einer längst untergegangenen Stadt, die wohl auch Klara Wäschers Millionen nicht mehr retten können, denn der Untergang war nicht nur mangelndem Geld geschuldet, sondern auch der kompletten Erosion der Moral. Seien wir ehrlich: Nicht erst das unmoralische Angebot der Milliardärin korrumpiert die ehrbaren Bürger dieser Stadt – was wir im Verlaufe der Lektüre von Dürrenmatts Drama erfahren, legt den Verdacht nahe, dass die charakterliche Verdorbenheit der meisten Bürger jahrzehntelange Tradition hat.
Was für Typen bevölkern dieses Güllen: Da ist Juliane Pempelfort als Mathilde Blumhard, die vollkommen irre Gattin des Alfred Ill, die im weißen Hemd und mit heruntergelassenen Hosen durch die Aufführung geistert; da ist Thomas Braus als Polizist mit Neonazi-Frisur, Stechschritt und Ausländerbeschimpfungen, der wütend die Prothesen schwingt, da ist Julia Wolff als Koby und Loby mit einer Blindenschnalle am Gürtel – Koby und Loby, die von Ill gekauften Zeugen zur Abwehr der Vaterschaftsklage, die Claire kastriert und geblendet hat -, da ist Heisam Abbas mit dem verklemmten Eros des Pastors, der lüstern die halbnackte Frau verfolgt, die sich in Zuckungen am Boden windet. Das ist eine der vielen Bilderfindungen, die diese Aufführung prägen, so wie die hohnlachende Alte Dame auf der Schaukel, die immer wieder ins Bild fährt, so wie die sechs altmodischen Schreibmaschinen, die sich von sechs Geisterhänden bewegt ins Bühnenbild schieben und die Bedrohung durch einen vergewaltigten bürokratischen Apparat symbolisieren, so wie die ausgefallenen Kostüme, das zwischen Militäruniform und Zirkusdirektorin angesiedelte Gewand der Zachanassian – und so wie das großartige Bühnenbild von Herbert Neubecker: ein hässlicher, sich nach hinten verengender Tunnel, eine Art Bahnunterführung, die jedoch eine Sackgasse ist. An ihrem Ende wird sie verschlossen von einem Haufen Dreck – eine unerbittliche Metapher für den Zustand der Gemeinde Güllen und die Zukunft der sie bewohnenden Zombies.
„Ich lebe in einer Hölle, seit du von mir gegangen bist“, schmeichelt Ill seiner inzwischen bitterbösen Ex, und Claire Zachanassian erwidert ungerührt: „Und ich bin die Hölle.“ Genau diese Hölle hat Sybille Fabian in ihrem expressiven, expressionistischen Bilderstrom inszeniert. Die Hölle ist nicht immer angenehm, schon gar nicht für den bequemen, konventionellen Inszenierungsformen zugeneigten Theaterzuschauer. Aber es sind heiße Feger, die die Hölle anheizen – und die, die sie bevölkern, auch. Die lieben den dissonanten Soundtrack und lassen sich am Ende auch von der melodischeren liturgisch anmutenden Weise nicht mehr verjagen. Mathilde rezitiert völlig verzerrt und unverständlich ein Gedicht von Hoffmann von Hoffmannswaldau, dem Dichter religiös angehauchter Liebeslyrik. Aus dem Dreckhaufen am Ende des Tunnels wird Alfred Ill hervorgezerrt. Die ganze Gemeinde-ratsversammlung beugt sich über ihm zusammen. Wer ihn tötet, wird niemals zu ermitteln sein. Einsam bleibt Ill zurück. Tot. Die Untoten aber werden weiter ihr Wesen treiben…