Durchaus Inhalt, aber wenig Kunst
Kaum jemand ist selbstgerechter als Eltern und Fahrradfahrer. Kampfradler kennen keine Verkehrsregeln und fühlen sich ideologisch stets auf der richtigen Seite, Eltern sourcen den kompletten Bildungs- und Erziehungsauftrag für ihre Kinder an die Schule aus, und wenn der Nachwuchs von der Polizei aufgegriffen wird, sind stets die anderen schuld. Bezüglich der Fahrradfahrer scheint es sogar politisch inkorrekt zu sein, über dieses Phänomen ein Theaterstück zu schreiben – jedenfalls gibt es keins. Immerhin: All die Kampfeltern, die ihre missratene Brut notfalls mit juristischem Beistand gegen überforderte Lehrer in Stellung bringen, amüsieren sich seit Jahren prächtig beim vielleicht gelungensten Boulevard-Stück aller Zeiten, bei Yasmina Rezas fulminantem Gott des Gemetzels.
Lutz Hübner ist – gemessen an der Zahl der Aufführungen seiner mittlerweile 38 Theaterstücke (der Mann ist noch keine 50!) – einer der erfolgreichsten Dramatiker deutscher Zunge. Er greift mit hoher Geschwindigkeit alle Stoffe auf, die in den Bereichen Wirtschaft, Jugend und Soziales in der Zeitung stehen, und verarbeitet sie zu amüsanten, oft spannenden, stets auch auf kleinen Bühnen funktionierenden Dramen. Das Thema der Kampfeltern hat er natürlich erkannt und geschickt mit einigen Aspekten der Bildungspolitik und einer Prise Wessi-Ossi-Ressentiments verknüpft. Eine deutsche Yasmina Reza allerdings ist er nicht.
Frau Müller muss weg ist eine hübsche, in ihren besten Momenten auch bösartige kleine Elternabend-Komödie. Da treffen sich in besetzungsfreundlich überschaubarer Zahl drei Mütter und das Eltern-Ehepaar Jeskow beim eigens einberufenen Elternabend mit der Klassenlehrerin der Grundschulklasse 4, um diese nach allen Regeln der Kunst abzuschießen. Denn Frau Müller hat zuletzt schlechte Noten vergeben und gefährdet damit die Promotion der aus unterschiedlichsten Gründen nicht gar so wohlgeratenen Blagen in die weiterführende Schule. Im Verlaufe des Abends entpuppt sich allerdings Frau Müller als eine wohltuend selbstkritische, aber auch höchst engagierte Pädagogin, und dem geneigten Publikum wird schnell, den betroffenen Eltern eher langsam klar, dass die Macken der ebenfalls nicht gerade perfekt geratenen Eltern die Kinder mindestens genauso geprägt haben wie die gegen solche Prägung mit nicht enden wollendem Enthusiasmus ankämpfende Lehrkraft. Papa und Mama verlieren schnell die Contenance und werden manchmal gar übergriffig – der Gott des Gemetzels lässt mehr als einmal grüßen. Am Ende… ach, das erzählen wir nicht; jedenfalls gucken die Eltern zum Schluss ziemlich bescheiden aus der Wäsche.
Frau Müller ist für Hübner eine Cash Cow - ungezählte Inszenierungen seit der Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden im Januar 2010 und Platz 4 bei den meistgespielten Aufführungen der vergangenen Spielzeit (hinter Faust und Sommernachtstraum) sprechen eine deutliche Sprache. Das ASPHALT-Festival in Düsseldorf hat mit der Einladung eines Gastspiels der – arg konventionell gestrickten – Komödie zunächst einmal eine ganze Menge richtig gemacht. Das Stück sollte schließlich für das ansonsten recht innovative Festival die Anchor Production werden, die das Publikum zieht. Und so griff man nicht auf die – nach allem, was man hört, sehr gelungenen – geografisch naheliegenden Produktionen z. B. vom Theater im Bauturm Köln oder vom Wolfgang-Borchert-Theater Münster zurück, sondern engagierte das legendäre Grips-Theater Berlin. Ein Name, der zieht. Dem Grips-Theater wiederum war ebenfalls ein Coup gelungen: Als Regisseur hatte es nämlich Sönke Wortmann gewonnen, den großartigen Film-Regisseur (Das Superweib, Die Päpstin, Das Wunder von Bern), dessen Name beim theaterfernen Publikum einschlägt wie eine Bombe. Und Wortmann schlussendlich wohnt in Düsseldorf – er hat also das Lokalkolorit, das dem ASPHALT-Festival in seinem Programm wichtig ist. Doch der eigentliche Coup des Festivals ist, dass man das Stück in der Aula des Düsseldorfer Goethe-Gymnasiums spielen lässt – in einer Schule, also da, wo es hingehört.
Ob Lutz Hübner und Sönke Wortmann mit ihrem Stück genauso viel richtig gemacht haben wie die Taktiker von der Festival-Disposition, sei dahingestellt. Die Aula zumindest ist voll – voller Lehrerinnen, die sich köstlich amüsieren. „Genauso ist es“, lachen sie glücklich, nachdem sie ihrem regulären Schulalltag knappe zwei Schulstunden lang zugeschaut haben. Exakt da liegt der Hase im Pfeffer. Trotz gelegentlicher hübscher Reza-Pointen und Beschimpfungen („Such dir’n‘ Job oder kauf dir ’nen Hund!“, wird der arbeitslose Ossi-Papa angeblafft) wirkt das Stück bieder – die aberwitzige Überspitzung, mit der Yasmina Rezas bereits mehrfach erwähnter Blockbuster punktet, bleibt aus. Hübner hat dem Volk aufs Maul geschaut und fraglos ein paar „Best Of“ Pointen aus dem Schul- und Elternabend-Alltag aneinandergereiht – aber diese hat er recht laff gewürzt; zudem bleibt der Plot bis hin zur finalen Pointe zwar lustig, aber vorhersehbar und überraschungsarm.
Solchen handwerklich gut gebauten Stücken können Regie und Schauspieler auf die Sprünge helfen. Dass Sönke Wortmann ein toller Filmemacher, aber kein Theaterregisseur ist, hätte man in Düsseldorf allerdings wissen können. Frau Müller muss weg ist seine dritte Schauspiel-Regie; seine ersten beiden Komödien inszenierte er am Düsseldorfer Schauspielhaus: Bullets over Broadway im Jahre 1996, Der Krüppel von Inishmaan drei Jahre später. Seitdem wissen wir in der Landeshauptstadt: Wortmann inszeniert vom Blatt. Mit anderen Worten: Von Regie ist seinem Theater wenig anzumerken. So ist es auch diesmal. Mit dem Ensemble allerdings hat das Grips-Theater Glück gehabt. Regine Seidler als Frau Müller macht aus der Schluss-Szene tatsächlich einen gelungenen Showdown, und die fünf Eltern wandeln ziemlich trittsicher auf dem schmalen Grat der typisierenden Charakterstudien, ohne jemals der Gefahr zu erliegen, ihre Figuren zu denunzieren. Katja Hiller als vorgeblich toughe Wessi-Managerin, René Schubert als Underdog-Ossi, der mal was mit der nach Harmonie strebenden, leicht alternativ angehauchten Museumspädagogin der Nina Reithmeier hatte, Alessa Kordeck als schnell eingeschnappte, so uncharmante wie gutmenschelnde Mutter und Roland Wolf als sozial ungeschickter, seine Leere aufblasender Vater des vermeintlich perfekten, aber nach Ansicht von Frau Müller an ADS leidenden Klassenkaspers Lukas – sie alle sind gerade noch in der Realität geerdet und scheinen uns als Figuren nahe.
Dies dürfte eine bewusste Entscheidung von Sönke Wortmann sein; es ist vielleicht auch angemessen, wenn man das Stück als Familienstück an einem Kinder- und Jugendtheater wie dem „Grips“ inszeniert. Hübners Stück macht durchaus das Angebot, diese Figuren mit all ihren Schwächen und Verklemmtheiten, mit ihrem kleinbürgerlichen Ehrgeiz und ihrer vollkommen unterschiedlichen Sozialisation ins Krasse, Schrille, Aberwitzige zu überzeichnen. Ob das funktionieren würde? Ob es der moderat geäußerten Kritik an den bildungspolitischen Fehlentwicklungen, die das Stück durchaus enthält, schaden würde? Ob es die Ossi-Wessi-Thematik, die mehrfach und in durchaus unterschiedlichen Facetten anklingt, denunzieren würde? Schwer zu sagen. So wie’s ist, ist es gut, weil die Zuschauer sich unterhalten und vielleicht gar erkannt fühlen. Aber es ist das, was Polonius will und nicht der große Denker und Grübler Hamlet: Es ist zwar durchaus Inhalt, aber etwas wenig Kunst.