Die Nacht vor der Schlacht
Schmuddelig ist der Raum. Der letzte Pulverdampf verzieht sich gerade; auf der kleinen runden Projektionsfläche oberhalb der Bühne sehen wir zunächst die Skizze einer eisernen Brücke; später die Ruine eines kriegszerstörten Hauses. Wir sind in einer leeren Stadt zwischen den Fronten. Die Stadt ist längst zerstört, aber die nächste Schlacht ist wohl nur eine Nacht entfernt. Zwei Soldaten kommen herein, gezeichnet vom Krieg. Gjero hat im Gesicht eine Blutkruste und im Schwitzkasten einen Feind.
Der entpuppt sich als sein Bruder Gjore. Vor Jahren hat Gjore seine Heimat verlassen und sich nach New York abgesetzt. Sein Glück hat er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gefunden. Aber nun ist er für seine neue Heimat in den Krieg gezogen – wohl kaum freiwillig, sondern eher aufgrund der unergründlichen Entscheidungen der großen Rekrutierungsmaschine. Nun kämpft er gegen die Armee, der sein Bruder Gjero angehört. Was wird nun passieren? Ist Blut dicker als Wasser; wird die enge verwandtschaftliche Beziehung über den stattlichen Auftrag zum Töten siegen? – Nun, im Grunde, so ahnen wir, sind in der leeren Stadt zwischen den Fronten beide dem Tod geweiht.
Jonas und Jean-Paul Baeck verkörpern Gjero und Gjore – sie sind auch im wahren Leben Brüder. Dejan Dukovskis bezüglich Zeit und Ort nicht festgelegtes Stück (dass Gjores neuer Herkunftsort geographisch exakt bezeichnet wird, wirkt in diesem Zusammenhang geradezu befremdlich) nimmt anhand der Situation eines nicht definierten Krieges Bezug auf die biblische Geschichte von Kain und Abel, von – in diesem Fall nur potentiellem – Brudermord, erzählt aber auch die Geschichte von zwei Menschen, die im Angesichts des Todes auf der Suche nach Versöhnung und nach früheren Gemeinsamkeiten sind. Und die im Grunde unfähig sind, das Misstrauen, das nicht nur die aktuelle Begegnung als Soldaten zweier feindlicher Armeen mit sich bringt, sondern in dem sich auch Reste früherer Rivalitäten zu spiegeln scheinen, zu überwinden. Gjero und Gjore umarmen sich – und lügen einander bis zum Schluss was vor. Sie saufen miteinander – und verprügeln sich anschließend bis aufs Messer. Sie spielen gegeneinander um Geld, erbarmungslos – und teilen am Ende brüderlich den Gewinn. Im Laufe der 80minütigen Aufführung schwankt die Beziehung der Brüdern zwischen Aggressivität, testosterongesteuerter abenteuerlustiger Männerfreundschaft und fast weinerlicher Anhänglichkeit.
Gjero, der seinen Bruder gefangen genommen hat, wirkt zunächst ängstlicher, nervöser als der gefasstere Gjore. Beide allerdings sind zerrissen zwischen Angst, fehlendem Vertrauen und Zuneigung. „Früher war ich jung, und du hast mich die ganze Zeit nur verarscht“, heißt es einmal – der Krieg, in dem die Brüder ungewollt zu militärischen Gegnern wurden, hat den Mangel an Vertrauen nicht erst hervorgerufen, sondern nur verschärft. Der immer schon schwelende Konflikt hat sich zugespitzt zu einer Situation, in der es um Leben und Tod geht. Und die theoretisch eine Entscheidung verlangt: für die Liebe und die Solidarität mit dem Familienangehörigen oder für den endgültigen, vermutlich tödlichen Bruch. Der Wunsch nach Solidarität und Versöhnung ist bei beiden erkennbar, aber sind sie fähig zu dieser Geste?
Sie versuchen es. „Sorry we’re closed“, erscheint auf der Videoscheibe – der Krieg hat geschlossen für diese entscheidende Nacht, die auch die Nacht vor der Entscheidung ist, die Nacht vor der Schlacht. Und so bekommt das, was die Brüder nun tun, eine doppelte Rechtfertigung: Es ist der Versuch der Wiederherstellung von Gemeinsamkeit, und es ist der Versuch zweier Todeskandidaten, noch einmal ihren Lebensdurst zu stillen. Sie geben sich allen Vergnügungen hin, die junge Männer nach Ansicht des Dramatikers schätzen: dem Besäufnis, dem Glücksspiel und dem Bordell. Voller Verzweiflung und voller Lebensgier. Und auf schwankendem Boden – in einer Stadt, in der das Bordell keine Frauen und das Casino keine Croupiers mehr hat. Und in der der eigene Bruder keinen Halt mehr bieten kann.
Wie Thomas Ulrich diese höchst beklemmende Story inszeniert, ist … sagen wir: zumindest überraschend. Schon zu Beginn erscheint Gjore für die Situation unangemessen komödiantisch; später schließt sich Gjero diesem Duktus an. Lange balanciert die Inszenierung auf einem schmalen Grat zwischen Comedy und Erschrecken, bis dass sie sich endgültig für die Comedy und für das Schrille entscheidet. Es ist doch fraglos Verzweiflung, wenn die Brüder im Bordell mangels Frauen masturbieren; es ist eine absurde Realitätsflucht, wenn sie im Angesicht des nahezu sicheren Todes aggressiv und mit höchstem Risiko Roulette spielen, und es könnte eine berührende Erkenntnis der wahren Werte im Leben bedeuten, wenn sie am Ende den Gewinn brüderlich teilen. Thomas Ulrichs Inszenierung läuft Gefahr, durch die schrille, comedyhafte Spielweise das vielschichtige, metaphernreiche Stück zu verfehlen. Auf die der Intention des Stückes scheinbar zuwider laufende Spielweise muss man sich einlassen. Dass das gelingt, ist zuvörderst den überzeugenden Schauspielern zu verdanken. Außerdem bekommt die Aufführung mit zunehmender Spieldauer mehr und mehr einen interessanten Performance-Charakter; tänzerische, choreographische Szenen häufen sich. Julius Richters wirkungsmächtige Klang-Collage bekommt immer wieder auch unangenehm aggressive Momente, insbesondere wenn das Macho-Gehabe der Protagonisten wieder besonders dominant wird.
Das Erschrecken gibt es nämlich dennoch: Jeder noch so minimale Streit endet damit, dass die Pistole gezückt wird – der Versuch der beiden Brüder, durch Alkohol und Frauen und besinnungsloses Glücksspiel den Krieg oder die brüderliche Rivalität aus den Köpfen zu bekommen, schlägt fehl. Wahrscheinlich will die Regie durch den komödiantischen Ansatz vieler Szenen diese Fallhöhe besonders ausstellen. Ob das gelingt, mag jeder für sich entscheiden. Am Ende jedenfalls führen Stück und Inszenierung konsequent wieder zum düsteren Ausgangspunkt, dem Krieg, zurück. Am Kiosk der leeren Stadt gibt es erstaunlicherweise noch Zeitungen, die von der bevorstehenden Offensive berichten. Wieder gibt es Pulverdampf. Und Artilleriefeuer: näher diesmal, lauter. Die Armeen stehen offenbar schon in der Stadt.
Doch nun wird die Videoscheibe, auf die stets Symbole für den Ort der Handlung projiziert wurden, gedreht. Grün sind die Projektionen nun, in der Farbe der Hoffnung: Das Ende hat etwas Utopisches und soll hier nicht verraten werden. Ob es die Rettung ist, bleibt offen.