Rastloses Sichern von Vorräten
Für die Liebhaber der kleinen Spielstätten in NRW gibt es eine gute Nachricht: Jörg Schulze-Neuhoff aus Bielefeld ist wieder unterwegs. Er hat seine erfolgreiche Tourneeproduktion aus dem Jahre 2011 wieder aufgenommen, für die ihn mancher Rezensent gar mit Klaus Kinski verglichen hat. Das ist sicherlich ein wenig hochgegriffen, aber ein bisschen ist schon dran:
Wirres, halblanges Haar, lackierte Fingernägel, hervorquellende große Augen, die ziemlich wirre Blicke werfen – wie ein Irrer wirkt er, getrieben, fast wie ein psychopathischer Serienmörder, wenn Schulze-Neuhoff auf Tuchfühlung ganz dicht um uns herumschleicht. Schulze-Neuhoff spielt das nicht näher definierte Tier in Franz Kafka unvollendeter Erzählung Der Bau. Das Tier hat diesen Bau errichtet und leidet zunehmend unter Verfolgungswahn. Vor allem der Burgplatz, sozusagen die Plaza Mayor seines unterirdischen Reiches, auf dem der größte Teil seiner Vorräte lagern, erscheint ihm unsicher; er muss geschützt werden; weitere Plätze und Verstecke müssen gebildet werden. Rastlos schleppt das Tier, wohl ein Dachs, Vorräte hin und her aus Angst vor einem imaginären Feind, so rastlos wie es den Bau angelegt hat als „Zickzackwerk von Gängen“, unruhig, verwirrend, ohne jegliche Harmonie. Dabei sucht der beständig Grabende vor allem Stille, die vollendete Ruhe; sein Ziel ist die vollständige Isolierung, die ja auch Schutz vor dem Feind bedeuten würde; das Tier, das sich zu Beginn gern von den kleinen Tieren im Erdreich ernährte, gräbt so tief, dass es kleine Tiere nicht mehr findet. „Wie schön es hier ist“, sagt Schulze-Neuhoff mit irrem Blick und voller Stolz: „Alle haben ihre Geschäfte, die keine Beziehung zu mir haben. Wie habe ich es angestellt, so etwas zu erreichen!“
Schulze-Neuhoff gibt diesen getriebenen, diesen unheilbaren Psychopathen mit ungeheurer Intensität; fast krabbelt er dabei seinem Publikum über die Beine, was die Suggestivkraft seines Spiels verstärkt. Manchmal wäre ihm etwas mehr Variabilität in seinem Spiel zu wünschen, damit die durchaus bedrohliche, auch gruselige Atmosphäre sich in den ca. 80 Minuten nicht abnutzt. Aber Schulze-Neuhoff und seinem Regisseur Stefan Meißner gelingt es, immer wieder auch Assoziationen zu wecken zu anderen, bekannteren Kafka-Texten, zu den Alpträumen des Käfers in der Verwandlung beispielsweise oder zur Türhüter-Parabel im Prozess: Sein ganzes Leben verbringe er in diesem Bau, sagt Schulze-Neuhoff. Am Ende ist er „kein kleiner Lehrling mehr, sondern ein alter Baumeister“, doch: „was ich an Kräften noch habe, versagt mir, wenn es zur Entscheidung kommt.“ Da ist es uns doch, als schließe der Türhüter das Tor zum Gesetz, durch das die ganzen Jahre niemand ging, denn „es war nur für dich bestimmt“, für den sein Leben lang vergeblich Einlass Begehrenden. Auch der Dachs im Bau wird seinen rastlosen Wahn ein Leben lang nicht los, obwohl ihm kein erkennbarer Feind nahte. Schulze-Neuhoff führt uns in den Tiefen des Baus auch ganz tief in Kafkas alptraumartige Gedankenwelt.
Und er tut das in kongenialen Spielstätten, in engen, unwegsamen Höhlen wie dem Theater an der Rottstraße in Bochum, noch zweimal in seiner Heimat Bielefeld (im Mouvement Theater), in der Studiobühne Essen, dem Kleinen Theater Herne oder dem Theater im Depot Dortmund, aber auch in Kneipen und absonderlichen Kleinstspielstätten wie dem Café Ankoné Gütersloh, dem Theater auf der Deele Dreyen oder dem Maschinchen Buntes Witten. Alle derzeit feststehenden Tournee-Termine hier.