Neues vom Weltkrieg
Die sympathische, geschmackvoll gekleidete Dame, die am gleichen Abend noch die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Ruhrtriennale (Delusion of the Fury, theater:pur berichtet) besuchen wird, dürfte bei dieser Station mit Rücksicht auf ihre hochwertige Garderobe geschummelt haben. Ich dagegen liege im Sand im Liegendanschlag, stelle mir vor, im Kriegsgebiet acht Stunden lang bewegungslos im Hinterhalt zu liegen, und ziele hypothetisch mit einem Smith & Wesson Revolver Kaliber 38 auf die Zielscheiben am Ende des Raumes. Es ist einer der Situation Rooms, und in Wirklichkeit habe ich keine Smith & Wesson in der Hand, sondern ein iPad am Stiel, und über die Kopfhörer erklärt mir Andreas Geikowski, Polizist, Sportschütze und mehrfacher Welt- und Europameister im dynamischen Großkaliberschießen, die Funktionsweise der Waffe und der Munition sowie die Schusstechnik. Auf Kommando tue ich so, als würde ich mit meiner nicht vorhandenen Pistole schießen, und die linke Scheibe fällt. In echt ebenso wie auf dem Bildschirm des iPad.
Wenn die nette Dame sich nicht auf den Boden gelegt haben sollte, ist das nicht schlimm. Im Allgemeinen aber funktioniert das multimediale Video-Stück nur, wenn alle Zuschauer die Anweisungen, die sie per iPad erhalten, exakt befolgen. Zwanzig verschiedene Situationen hat Rimini Protokoll mit Hilfe einer komplexen Netzplantechnik sekundengenau aufeinander abgestimmt; exakt 20 Zuschauer werden benötigt, die gleichzeitig, aber jeweils solo auf eine individuelle Reise gehen durch ein verschachteltes Gebäude, in dem sie zehn verschiedene Aspekte des Krieges erleben. Rimini Protokoll arbeitet, das weiß man inzwischen, nicht mit Schauspielern, sondern mit „Experten des Alltags“, mit Laien, die ihre eigene spezifische berufliche oder private Situation erläutern oder darstellen. In der Netzplan-Installation von Situation Rooms schlüpfen wir selbst in die Rolle der Experten des Alltags. Die echten Experten geben uns via vorgefertigter iPad-Filme Anweisungen für unsere Handlungen und erzählen gleichzeitig ihre Geschichte. Ab und zu sind die Episoden miteinander verknüpft, und wenn wir dann zum Beispiel nicht den auf dem Boden gefundenen USB-Stick weisungsgemäß aufnehmen und im nächsten Raum in die Tasche eines blauen Mantels stecken, dann findet der nächste, der diesen blauen Mantel anziehen soll, nach ein oder zwei weiteren Stationen den Stick nicht in der Tasche, den er zur Herstellung eines Waffenteils in den Computer schieben soll...
Es sind Experten des Krieges, die uns lenken und leiten durch ein haunted house of wars and weapons. Auf engstem Raum durch Asylantenheim-Wohnungen, noble Konferenzräume und Folterkeller. Jeder startet den Parcours an einer anderen Stelle – ich selbst leide gleich zu Beginn an einer Schussverletzung, die ich mir bei Zusammenstößen mit der Polizei bei einer friedlich geplanten Demonstration in Homs/Syrien zugezogen habe. Nun bin ich als Flüchtling in Deutschland in einem kleinen Operationssaal und lege mich aufs OP-Bett. Tatsächlich kommt nach einiger Zeit eine andere Zuschauerin, eine Ärztin, und klebt mir ein Pflaster. Später werde ich bei der Kantinenchefin einer russischen Munitionsfabrik Borschtsch essen (nachdem ich zuvor den Teller meines Vorgängers gespült habe), bei einer Flüchtlings-Familie aus Libyen, die unter abenteuerlichsten Umständen per Boot in Italien gestrandet ist, auf dem Sofa sitzen und mit Jan van Aken, Bundestagsabgeordnetem der Linken, eine Messe für militärisches Gerät besichtigen und den Chefeinkäufer der saudischen Armee besuchen, bei dem wir so manches deutsche Etikett auf Waffen finden, deren Export nach Saudi-Arabien verboten ist. Spannend und in seiner Ambivalenz ungeheuer nachdenklich stimmend ist der Bericht des Oberleutnants der indischen Luftwaffe, der uns über die Vorteile des Drohneneinsatzes aufklärt, die ebenso auf der Hand liegen wie es am Ende unausgesprochen klar wird, dass Kollateralschäden bei Zivilisten in Kauf zu nehmen sind. Besonders zu Herzen geht die Geschichte des Kindersoldaten aus der Demokratischen Republik Kongo, der, als er im Alter von elf Jahren nach zweijährigem Dienst und politischem Umschwung wie alle Kindersoldaten aus der Armee entlassen wird, dies als ungerechtfertigt empfindet – irgendwie wird ihm nun ja die Existenzgrundlage entzogen…
Und so weiter und so weiter. Ein grauenvolles, aber auch faszinierendes Mosaik von Schicksalen eines Krieges, von Opfern und von Menschen, die als kleine oder große Rädchen mit der Rüstungsindustrie oder mit dem Krieg ihr Geld verdienen, setzt sich zusammen. Nicht immer nur als Anklage – oft ist es eine Bestandsaufnahme, und wir sind selbst aufgerufen, daraus unsere Schüsse zu ziehen. Wer will schon etwas gegen die Kantinenchefin der Munitionsfabrik sagen? Wer will dem Feinmechaniker der Rüstungsfabrik einen Vorwurf machen? Und ist nicht der Drohneneinsatz tatsächlich sauberer, präziser und sicherer als die bemannte Kriegs-Luftfahrt? Auch wenn gelegentlich die Falschen getroffen werden?? – Oh weh, in welche Gedankenverwirrungen geraten wir nach diesem Erlebnis, das noch lange nachwirken wird.
Die ganze Angelegenheit klingt, wenn man sie beschreibt, möglicherweise ein wenig kompliziert. Tatsächlich muss der Zuschauer aber nur tun, was das iPad ihm sagt. Zugegebenermaßen erfordert das große Konzentration – manchmal so stark, dass man vor lauter Angst, etwas falsch zu machen und damit sich und andere Zuschauer aus dem Konzept zu bringen, vergisst, auf den Text zu hören. Die Komplexität des Netzplans stellt eben auch an den Zuschauer hohe Anforderungen. Aber keine Sorge: Auch ich bin zu Beginn zweimal verloren gegangen – schnell findet man dienstbare Geister, die einen wieder an die richtige Stelle des Parcours führen. Und wenn der USB-Stick nicht zu finden ist und Sie ihn nicht wie vorgesehen im Mantel verstecken können, ist er wie von Geisterhand am Ende doch drin. Die dienstbaren Geister haben offenbar alles unter Kontrolle. Eine unsichtbare Drohne scheint über dem Gelände zu kreisen und alle unsere Fehler auszubügeln. Unbedingt hingehen!