Caligula – Tyrann aus Weltekel
„Das Bühnenbild sieht aus wie das Büro meines Vaters. Ein schäbiger Parteisitz im Nirgendwo“, hatte Marco Massafra den „Ruhrnachrichten“ bereits im Vorfeld seines Regie-Debuts verraten. Und tatsächlich: ein langer Resopal-Tisch, ein vorzeitlicher Computer nebst Drucker aus den Geburtsjahren des digitalen Büros und eine Kaffeemaschine sind alles, was die Machtzentrale des grausamen römischen Herrschers Caligula ausmacht. Eine erbärmlich nüchterne, wenig aufheiternde Arbeitsumgebung. Nach und nach trudeln der Hofstaat respektive die wenigen Menschen, mit denen sich Caligula bislang noch halbwegs vertrauensvoll zusammensetzte, ein. Nur von Caligula selbst ist nichts zu sehen.
„Nichts“ ist daher nach langen stummen Minuten das erste Wort der Aufführung: „Immer noch nichts“, sagt Scipio. „Morgens nichts, abends nichts“, bestätigt Cherea. Seit drei Tagen hat man die ganze Gegend nach Caligula abgesucht. Und hat man ihn vor seinem Verschwinden, als er sich schon merkwürdig verhielt, gefragt, was mit ihm sei, so war seine einzige Antwort: „Nichts“.
Dieser Stückeinstieg ist eine kleine ironische Reverenz der Regie an den Existenzialismus, dem Albert Camus nahestand. Aber dieses Nichts, eine tiefe Leere, fühlt wohl auch der Kaiser tief in seinem Inneren, nachdem seine geliebte Schwester Drusilla, die ihm inzestuös verbunden war, verstorben ist. Caligula, der in die Geschichte eingegangen ist als der klassische Vertreter einer blutrünstigen, egozentrischen Willkürherrschaft, als Impresario von lebensgefährlichen Zirkusspielen, Mord und schrankenlosem Sex, als der Mann, der sein Pferd zum Mitglied des Senats ernannte, war, so legen es einige historische Quellen und auch diese Aufführung nahe, in seinen ersten Regierungsjahren durchaus beliebt. Caligula „wollte ein Gerechter sein“, heißt es im Drama; Scipio, Cherea, der ehemalige Sklave Helicon und die spätere Gattin Caesonia – die anderen elf Figuren aus Camus‘ Text sind gestrichen – haben ihn geschätzt; ohne ihn sind sie ratlos, gelähmt, entscheidungsunfähig. Umso überraschter sind sie, als der Kaiser zurückkehrt: gewandelt zum Tyrannen. Zum Tyrannen aus Weltekel. Zu einem sadistischen, brutalen Ekelpaket voller Melancholie und Trauer, voller resignativem Nihilismus.
Wie Martin Bretschneider den Kaiser spielt, ist die eigentliche Überraschung dieser Inszenierung. Er legt ihn an als furchterregenden, selbstherrlichen, anmaßenden, repressiven Unterdrücker, der doch im Grunde Mitleid erregt, dessen Denken und Handeln irgendwo nachvollziehbar bleibt aus der Erfahrung seines eigenen Leids. Antike Quellen beschreiben Caligula als einen geisteskranken, wahnsinnigen Menschen und führen diesen Wahnsinn auf den nicht erst zwischen Caligula und Drusilla, sondern schon in früheren Generationen in den Herrscherfamilien üblichen Inzest zurück. Massafras Inszenierung legt nahe, dass Caligula nicht zuerst krank im Kopf, sondern krank im Herzen war – in tiefe Depression gestürzt aufgrund des frühen Todes von Drusilla. „Die Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen“, erkennt der Kaiser – und der depressive, melancholische Träumer, der der sich den Mond herbeigewünscht hatte, steigert sich langsam in eine unermessliche, absurde Brutalität. Die unerbittliche Konsequenz, die er aus der Erkenntnis zieht, dass das Leben nicht gerecht ist, heißt: Ungerechtigkeit und Willkür um jeden Preis. Seine Getreuen werden schikaniert, seine Untertanen im Wortsinne zu Marionetten umfunktioniert; der Verkauf von Lebensmitteln wird verboten, um eine Hungersnot herbeizuführen, und wahllos und exzessiv wird hingerichtet. Geschickt wird in der Inszenierung eine Atmosphäre der ultimativen Bedrohung kreiert: „Man ist schuldig, weil man ein Untertan Caligulas ist. Alle sind Untertanen Caligulas, folglich ist jeder schuldig.“ Unerbittlich rattert zu diesen Worten der Drucker mit den Endloslisten der Hinrichtungen. Es erscheint wie der Gipfel des Zynismus, dass auf dem Bildschirmschoner des Computers die Buchstaben SPQR zu lesen sind – das Kürzel für die republikanische Staatsform Roms, für die Machtverteilung zwischen Aristokratie und Volk: Senatus Populusque Romanus.
Mit solchen kleinen Zeichen schafft Regisseur Marco Massafra Spannung und eine Atmosphäre, die einem bisweilen die Kehle zuzuschnüren vermag. Seine Inszenierung lässt sich grundsätzlich in drei Teile gliedern: Die überwiegend leise, zum Zuhören zwingende, aber den Zuschauer nicht überfordernde Aufführung hat zu Beginn geradezu kabarettistische Untertöne. Als Caligulas engste Begleiter noch nicht ahnen, welch furchtbaren Wandel der Charakter des Kaisers durchgemacht hat, lassen lakonische Dialoge schmunzeln. Noch kann Cherea seinem liebeskranken Herrscher ungestraft entgegenhalten: „Eine Frau verloren, zehn gewonnen“. Noch als die vier in lächerlicher Weise dem Kaiser in einer Art Kindergeburtstags-Choreographie als lustige Musikanten hinterherhüpfen müssen, gibt es lautes Gelächter aus dem Publikum – was Massafra, der auch den Cherea, den späteren Mörder Caligulas spielt, ein wenig zu verwundern scheint, denn zu diesem Zeitpunkt hat längst Phase 2, die dunkle Bedrohung und die Willkür, eingesetzt. - Zum Schluss begehren Scipio und Cherea auf, und Caligula scheint geradezu um seinen Tod zu betteln. Wertediskussionen flammen auf, Kontroversen zwischen dem Kaiser und seinen bislang so verängstigten Followern entstehen; Caligula bringt die neue Frau an seiner Seite, die ihn immer noch liebende Caesonia, um. Obwohl in dieser Phase richtig Feuer unterm Dach sein müsste, erschöpft sich die Inszenierung nun im Wesentlichen im Austausch von Argumenten; das „Theater“ zieht sich zurück. Die Klimax dieser Aufführung liegt im Mittelteil – dass das gewollt ist, mag bezweifelt werden.
Aber es ist ja ohnehin der Text, die Argumentation, die weltanschauliche Dimension von Camus‘ Drama, die immer wieder unsere Aufmerksamkeit erringt. Wieder und wieder hören wir Kernsätze, die gerade in heutigen Wahlkampfzeiten unsere politische Gegenwart zu hinterfragen scheinen: „Regierung heißt stehlen, aber das weiß hier doch jeder“, sagt Caligula. Oder: „Wenn der Staatsschatz lebenswichtig ist, dann ist es das Menschenleben nicht.“ – „Ich bin ein Kaiser, der die Freiheit ehrt. Mit der Freiheit beginnt für Rom eine große Prüfung…“, sagt der, der die Freiheit nur für sich selbst als Maxime determiniert: „Man ist immer auf Kosten eines anderen frei. Das ist absurd, aber normal.“ - Na ja, so schlimm steht’s vielleicht noch nicht um Deutschland, obwohl man manchmal denkt, die Dekadenz unseres Lebens und unseres egoistischen, so wenig dem Allgemeinwohl verpflichteten Handelns sei nicht mehr so weit von der des alten Rom entfernt. Langer Applaus für eine spannende Inszenierung und fünf großartige Schauspieler.