Schwarze Pilze sind tote Spatzen
„Die Gegend ist unbeschreiblich schön.“ Eine idyllische Landschaftsbeschreibung steht am Beginn von Anna Malunats drittem Teil ihrer "Heimat“-Trilogie. In den Vorjahren hatte sich die 33jährige Förderpreisträgerin der Stadt Düsseldorf in ihren ebenfalls am Forum Freies Theater gezeigten Projekten Halt Dich am Zaun, der Himmel ist hoch und Jesus ich möchte viel Glück beim Angeln (theater:pur berichtet) mit der Vergangenheit und der Gegenwart unserer Heimat beschäftigt. Jetzt geht es um die Zukunft. Um die Zeit nach der Apokalypse: Grundlage für ihre neue Inszenierung sind Texte aus Swetlana Alexijewitschs Zeitzeugen-Protokollen Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft.
Von klarem Wasser und reiner Luft schwärmen die drei Gestalten, die uns aus dem Dickicht des Waldes entgegentreten. Auch von Jan Katteins Bühnenbild lässt sich sagen, es sei unbeschreiblich schön: Viel Grün wächst wie weiland Omas Stangenbohnen an langen Schnüren bis zur Decke. Barfuß stehen die drei Schauspieler da, mit strahlendem, aber doch recht eingefrorenem Lächeln. Die Pflanzen aber stecken in Schuhen: 2000 Kinderschuhe, Sportschuhe, Stiefeletten und Straßenschuhe bilden den Humus für kleines und großes Grünzeug. Sind es die Schuhe von Opfern der Atomkatastrophe? Was bedeutet es, dass die Seile, an denen die gen Bühnenhimmel rankenden Pflanzen befestigt sind, nach oben immer kahler werden? Sind neu keimende Pflanzen noch im Wachstum begriffen? Oder symbolisiert diese Darstellung vielleicht eher das durch die Katastrophe herbeigeführte viel zu frühe Ende aufkeimenden Lebens? – Wie auch immer: Das Bühnenbild ist von magischer Schönheit - es ist die Schönheit des Schreckens, denn diese Pflanzen sind auf Jahrhunderte kontaminiert, und wenn Katharina Meves im Wald kleine schwarze Pilze zu sehen glaubt, so entpuppen sich die als tote Spatzen.
So schön wie die Landschaft war auch der Himmel über Tschernobyl, das rote Leuchten am Horizont an jenem April-Tag im Jahre 1986. „Sie waren zu einem normalen Feuerwehreinsatz geholt worden. Er kam mit geschwollenen Lymphdrüsen zurück“, erzählt Meves. Ganz lakonisch, in bewusster Unterspielung und fast immer mit diesem gefrorenen Lächeln sprechen Meves und ihr Bühnen-Partner Theo Plakoudakis ihre Texte, eine grauenvolle, mit zunehmender Dauer des Abends immer bedrückendere Collage aus den in Alexijewitschs Buch zusammengestellten Berichten. Auch Johannes Öllinger zitiert einige Ausschnitte des Buches; vorwiegend aber begleitet er seine beiden Schauspieler-Kollegen auf der Bass-Gitarre, manchmal mit harten Beats, manchmal eher harmonisch, vereinzelt mit kratzendem Geräusch. Immer lauter, immer intensiver, mit unerbittlichem Rhythmus, als die Liste der Toten vorgelesen wird, die das Unglück gekostet hat. Das schmerzt – nicht der Lautstärke wegen, sondern weil unsere Vorstellungskraft es nicht mehr aushält. Dann wieder wird es fast humorvoll, wenn das Zwitschern der Touristen und der Journalisten imitiert wird, die Jahre später das Gelände besuchen und Fragen stellen: harmlose und treffende, empathische und sachliche, sensationslüsterne und neugierige. Plakoudakis fordert Meves auf, endlich einmal „etwas Lustiges“ zu spielen – sie zieht sich eine leichte Sommerhose bis über die Schultern und stellt verletzte Tiere dar – und schwerstbehinderte Katastrophenopfer. Immer mit diesem Lächeln, diesem grimassenhaften Lächeln einer Traumatisierten. - Es wird getanzt, bis zur völligen Verausgabung: „Wir wollten es uns erst nicht eingestehen, aber unsere Beine trugen uns kaum noch…“
Geschickt ist diese Collage zusammengestellt: Gleichwertig neben- und hintereinander werden existenzielle Fragen und Banalitäten, materialistische Erwägungen und hochemotionale Momente verhandelt. Völlig ohne Dramatik werden sie vorgetragen, mal in poetischen, mal in suggestiven Formulierungen. Kleine Geschichten schälen sich aus den wechselnden kurzen Passagen heraus: die Geschichte von den Haustieren, die die Großmutter vor ihrem Zwangsumzug noch versorgte – später werden alle zurückgelassenen Tiere getötet, weil sie kontaminiert sind und damit eine Gefahr für die Menschen außerhalb der Schutzzone darstellen. Die Geschichte vom Ehemann, der mit den geschwollenen Lymphdrüsen vom Feuerwehreinsatz zurückkommt und später unheilbar verletzt im Krankenhaus liegt: Am Ende wird der Arzt so unsensibel wie präzise konstatieren: „Das ist nicht mehr Ihr Mann, der da liegt. Das ist ein radioaktiv verseuchtes Objekt.“
Nach und nach begreifen wir, dass das, was wir hören, nicht nur retrospektiv als Bericht von der zurückliegenden Katastrophe zu verstehen ist, sondern auch als apokalyptische Zukunftsvision: „Die radioaktiven Teilchen, die über unsere Erde verstreut wurden, halten sich fünfzig, hundert, zweihundert Jahre … Und mehr“, schreibt Swetlana Alexijewitsch. Und: „Was sich in Tschernobyl am meisten einprägt, ist das Leben danach: Dinge ohne Menschen, Landschaften ohne Menschen. Wege ins Nichts, Telegrafendrähte ins Nichts.“ -
Wiederholungen nicht ausgeschlossen, sagt die vielschichtige, Betroffenheit auslösende Inszenierung. Und erinnert an Fukushima, an die vergebliche Endlagersuche für Atommüll in Deutschland und Europa. Fragt: „Waren Sie davor religiös – und wenn ja, sind Sie’s immer noch?“
Am Ende stehen die drei Überlebenden der Katastrophe wieder am Rande des Waldes, wie in der ersten Szene. 30 Jahre nach der Katastrophe, 100 Jahre, 200 Jahre? Ihr Lächeln ist eingefroren. „Die Gegend ist unbeschreiblich schön“, schwärmen sie. Blackout.