Eine Stille für Frau Schirakesch im Köln, Theater Der Keller

Klumsche Dummchen und das Klohaus von Tschundakar

Manchmal holt die Wirklichkeit das Theater ein. Gut getimt hat Heinz Simon Keller die Spielzeiteröffnung am Theater Der Keller Köln (gleichzeitig die Eröffnungs-Premiere seiner unter schwierigen finanziellen Bedingungen angetretenen Intendanz). Schließlich soll an diesem und am übernächsten Wochenende einer der unumstrittenen Höhepunkte im Bereich der Darstellenden Künste stattfinden: Die Wahl zur Miss World 2013. Ob die Wahl problemfrei und am vorgesehenen Ort über die Bühne geht, bleibt abzuwarten: Schauplatz dieses dem Theaterfreund eher anachronistisch anmutenden Events soll nämlich Indonesien sein – und dort gibt es massive Proteste religiöser Hardliner. Vorsichtshalber ist die Kategorie Bademoden schon mal gestrichen – die Beauties lassen den Bikini im Koffer.

Vielleicht ziehen sie ja eine Burka an. Was Theresia Walsers General Gert kaum stören wird: Den macht der Blick durch den Schlitz des Ganzkörperkondoms viel mehr an als das Busengewackel westlicher Strandschönheiten. Behauptet er jedenfalls. Heidrun und Ruth dagegen sind gerade noch beim Schönheitswettbewerb im knappsten aller Kostüme aufgelaufen. In Tschundakar, das nicht von ungefähr onomatopoetisch an Kandahar erinnert: So imaginiert der Zuschauer stets Afghanistan, wenn er sich mit dem Schicksal von Frau Schirakesch beschäftigt. Und derentwegen sitzen wir schließlich hier im Fernsehstudio einer Talkshow und sehen unterschiedlichen Menschen zu, die zuletzt Erfahrungen mit der fremden Kultur des Mullah-Staates gesammelt haben. Als Bikini-Schöne, General oder Soldatin. Die Sendung wird in einer guten Stunde beginnen. Denn in 77 Minuten soll Frau Schirakesch gesteinigt werden. Mit fünf Minuten Stille soll die Talkshow zu Leben und Tod in Tschundakar eingeleitet werden, im würdigen Gedenken an die Frau, die „bis zu den Hüften eingebuddelt wird“ und der zeitgleich „Horden von Männern … das Gesicht zerschmeißen …, bis nichts mehr übrig ist als blutiger Matsch.“ Originalzitat Hilda Ludowski, Talkshow-Moderatorin in Walsers Stück, dessen Grundton damit bereits angeschlagen ist: Ludowski, ein homo ludens der Fernseh-Unterhaltung, die unbedenklich Betroffenheits-TV mit Sensations-Phrasen mischt.

Gnadenlos, aber mit dem ihr eigenen Sprachwitz, der in atemberaubender Weise die politischen Inkorrektheiten unserer Alltagsunterhaltungen aufspießt, entlarvt Theresia Walser in ihrer bitterbösen Komödie die Worthülsen unserer Fernsehshows, die allenfalls oberflächliche, wenig empathische Betroffenheit der in ihren eigenen egozentrischen Miniaturproblemen feststeckenden Diskutanten – und zumindest in einer in Köln zum aberwitzigen Höhepunkt des Abends werdenden Szene auch den Sinn und Unsinn des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. Die Sendung wird wohl ein Desaster werden, wenn man das Verhalten und die Charaktere der Diskutanten betrachtet.

Schauen Sie sich das dpa-Foto der in Indonesien bei der Miss-Wahl kandidierenden Miss Finnland und Miss Dänemark an (u. a. abgebildet auf der Internet-Seite des Hamburger Abendblatts): Franziska Ferrari und Alice Zikelis Schönheitsköniginnen Heidrun und Ruth im Theater Der Keller ähneln den beiden jeweils wie ein Ei dem anderen. Aber sie haben auch eine Menge vom naiven Zicken-Gehabe der Klumschen Dummchen aus Germany’s Next Top Model – die eine ist eine intellektuell flache Hysterikerin, die andere ein intrigantes Biest. Der General pendelt wenig fokussiert zwischen Macho-Gehabe und staatsmännischen Benimm-Regeln, zwischen Eitelkeit und brüchiger Lebenslüge hin und her, die Soldatin entpuppt sich als traumatisierte Autistin, die das Ohr eines ums Leben gekommenen Kameraden als Andenken mit sich herumträgt, und ihr Vater versucht mit der geliehenen Prominenz ihres furchtbaren Schicksals zu prunken.

Die pointierten Dialoge und das Doppelbödige der Walserschen Sprache fordern von den Schauspielern hohes Tempo, flottes Sprechen und die Fähigkeit, die Abgründe der Farce sichtbar zu machen. Leider gelingt dies dem Team in Köln nur unzureichend; insbesondere zu Beginn gerät die himmelschreiend komische Komödie allzu statisch. Den unterschwelligen Hohn des Textes zum Klingen zu bringen vermögen insbesondere die sich vorwiegend auf den Zickenalarm konzentrierenden Schönheitsköniginnen und die ein wenig bieder wirkende Susanne Seuffert als Moderatorin zu wenig. Wenn der Feuerwehrfonds der Stadt Köln, der das Theater Der Keller gegenwärtig am Leben erhält, einmal eine Verzwanzigfachung des Etats zulässt, empfehlen wir Anke Engelke für diese Rolle: Das bedenkenlose, eitle Sabbeln, das automatische Screening aller Wortbeiträge im Hinblick auf den Nutzen für die eigene Fernseh-Karriere bei gleichzeitigem Rest an ehrlicher Anteilnahme würde sie mit der notwendigen Selbstironie und Doppelbödigkeit unterlegen, die dem Walserschen Witz angemessen wäre.

Auch Klaus Lehmann als Herr Gert wirkt zunächst blass. Er sorgt jedoch mit einer grotesken Geschichte für den hinreißenden Höhepunkt des Kölner Abends – das Schlimme ist: wir schließen nicht aus, dass sie sich so oder ähnlich in Krisengebieten, in denen die Bundeswehr zum Wiederaufbau des zivilen Lebens eingesetzt wird, abgespielt haben könnte. Auf dem Marktplatz von Tschundakar haben 170 Soldaten ein kleines blaues Klo-Häuschen eingeweiht, um endlich auch den Frauen des Landes zu ermöglichen, außerhalb ihrer eigenen vier Wände… na, Sie wissen schon. Grandios, wie sich Lehmann in eine Euphorie steigert angesichts dieser größten von ihm und seinen Soldaten initiierten humanitären Errungenschaft. Dummerweise hat sie niemand je genutzt – was verstehen wir schon von den kulturellen Eigenheiten muslimischer Mullah-Staaten? – Die Klohäuschen-Geschichte ist eine großartige, scharfe politische Satire, die mehr als nur ein Körnchen Wahrheit beinhalten dürfte.

Spätestens mit dieser Szene hat sich Klaus Lehmann freigespielt; seine Figur gewinnt an Statur, und er wird den sarkastischen Abgründen von Walsers Farce gerecht. Ohnehin nimmt die Inszenierung zu diesem Zeitpunkt an Fahrt auf, wird ironischer und witziger. Offenbar benötigte das Team am allerersten Abend einer neuen Intendanz diese 45 Minuten, um sich von einer gewissen Nervosität zu befreien. Auch ein verfremdender Einsatz von Video und Musik unterstützt jetzt die Wirkung des Textes und verleiht dem Abend größere Intensität. Ganz ohne Musik und fast ohne Text erreicht diese Intensität aber die charismatischste Schauspielerin an diesem Abend: Wenn Pinar Özden als die von ihren Kriegserlebnissen schwer traumatisierte Autistin Rose breitbeinig und mit großen, stieren Augen vor sich hinbrütet, die meiste Zeit über sich ins Halbdunkel hinter dem Talk-Sofa zurückzieht, dann spürt man: Da braut sich etwas zusammen. Dieser Implosion kann jederzeit eine Explosion folgen. Wie Özden die Traumatisierungen des Krieges spürbar macht, das stellt fast alle Dannys aus Dagenham, die wir vor einigen Jahren in Simon Stephens‘ Motortown mit ähnlichen Syndromen gesehen haben, in den Schatten.

So sehen wir denn am Theater Der Keller ein tolles Stück, aus dem das Team zum Spielzeitbeginn noch nicht alles herausgeholt hat, was an hintergründigem Humor und an bösartigen Abgründen in ihm steckt. Bisweilen wirkt die Inszenierung noch unfertig; dennoch ist es ein unterhaltsamer, aber auch zum kritischen Nachdenken über unsere (TV-)Konsumhaltung anregender Abend.