Die gescheiterte Inklusion eines Mohren
Stringenter als die meisten anderen Schauspielhäuser des Landes richtet das Schlosstheater Moers seinen Jahres-Spielplan jeweils an einer bestimmten Thematik aus. Für die Spielzeit 2013/14 hat sich das Haus das Thema „Inklusion“ vorgenommen. Und zeigt als Eröffnungs-Premiere Othello, Shakespeares Tragödie über den Mohren von Venedig, der erfolgreich und geschätzt als Feldherr war, aber aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe angefeindet und durch Intrigen zu Fall gebracht wurde. Ein klassischer Fall von Ausgrenzung.
Der edle Mohr, den die Älteren noch aus klassisch-konventionellen Aufführungen des Stückes kennen, ist in Ulrich Grebs Inszenierung gar so edel nicht. Er ist Soldat durch und durch, ein großer, kräftiger Mann mit kurzgeschorenem Haar und Macho-Sonnenbrille, in schweren Stiefeln und einer Lederhose, die schon bessere Tage gesehen hat. Das Feingeistige ist Othellos Sache nicht; in seinen Bewegungen ebenso wie in seiner sprachlichen Differenzierungsfähigkeit ist er ein wenig grob gestrickt. Wenn nicht alles täuscht, gibt ihm Werner Strenger, bis vor sechs Jahren festes Ensemble-Mitglied am Schlosstheater und jetzt für die Rolle des Othello ausgeliehen vom Schauspielhaus Bochum, sogar Ansätze eines türkischen Akzents mit. Der migrantische Hintergrund, der bei Shakespeare durch die Hautfarbe deutlich wird, sticht in Moers allerdings zunächst gar nicht ins Auge. Dieser Othello ist einfach nur ein Naturbursche. Nicht schwarz geschminkt, sondern so, wie Gott den Werner Strenger geschaffen hat. Aber nicht die rosige, nach dem Pulverdampf des Zypernkrieges sogar vorübergehend doch mal schwarze Farbe des Naturburschen ist angesagt, sondern White is beautiful: Die bessere Gesellschaft schaufelt sich so viel kalkweißes Puder ins Gesicht und auf die Haare, dass es bis in die erste Reihe staubt. So war das ja im 16. Jahrhundert, zumindest bei den feinen Damen: Die mieden das Sonnenlicht und ließen sich sogar Blut abnehmen, damit sie eine möglichst weiße Haut bekamen. So wird das Fremdsein denn auf andere Weise deutlich: durch die Verweigerung der bescheuerten Ideale der einheimischen Oberschicht und durch weniger elegant empfundenes Auftreten. Das hat auch im Hinblick auf unsere heutige Gesellschaft dann wieder etwas Migrantisches…
Tief im Herzen, in seiner Seele ist dieser Othello natürlich keineswegs grob gestrickt. Wenn seine Zweifel an der ehelichen Treue von Desdemona wachsen, er sich niemandem wirklich öffnen kann und in seiner Verzweiflung zu implodieren droht, hat Strengers Othello seine stärksten Szenen. Bemitleidenswert wirkt er in diesen Momenten – und gleichzeitig bedrohlich, weil man ahnt, dass da ein Mann, der seine Erfolge durch Körperkraft und Kriegsgewalt und nicht mit Intellektualität erzielt hat, seinen Emotionen Raum verschaffen muss – und dass das in Gewalt enden muss. Das hat etwas von Woyzeck, auch wenn Othello natürlich klüger und gebildeter ist als Büchners tumber Soldat. Und wie Woyzeck tötet Othello das von ihm am meisten geliebte Wesen. „Der Narr! Hirnlos wie Dreck!“, sagt die entsetzte Emilia. Der Ausgegrenzte ist zum Mörder geworden – ohne gelungene Inklusion ist die gesellschaftliche Integration endgültig zum Scheitern verurteilt.
Frank Wickermann gibt den Jago, den Intriganten, Ränkeschmied und Gegenspieler Othellos, als sprachlich und – zumindest vermeintlich – in seiner Differenzierungsfähigkeit überlegenen Intellektuellen. Rodrigo, auch er in Desdemona verliebt, wird von Jago für seine Intrigen instrumentalisiert – Patrick Dollas, in ein gigolohaftes Kostüm gesteckt, spielt ihn als etwas dümmlichen, ein wenig tuntenhaften Naivling und wird zum Running Gag der Inszenierung: Kaum taucht er auf, fragt ihn eine der anderen Figuren: „Wer bist Du denn?“ – Auch ein Fall von Ausgrenzung, aber in der Tat fragt man sich am Ende der dreieinviertelstündigen Aufführung, wozu zum Teufel Jago respektive Shakespeare den nochmal gebraucht hat. Wozu Ulrich Greb ihn brauchte außer zur Generierung des einen oder anderen Lachers, werden wir zum Schluss begreifen…
Matthias Heße ragt aus dem soliden, diesmal aber nicht die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreichenden Moerser Ensemble heraus. Perfekt spielt er auf der gesamten Klaviatur seines Könnens, ist böse und gut, laut und leise, niedergeschlagen und wütend, staatsmännisch und prollig. In der recht statischen Anfangsszene beim Dogen von Venedig mit ihren enttäuschend eindimensionalen Figuren gelingt nur Heße als Brabantio eine komplexe, glaubwürdige Charakterstudie: Desdemonas Vater ist ob der Eheschließung mit einem Mohren entsetzt, verärgert, verzweifelt, und doch wirkt er in erster Linie nicht wie ein Rassist, sondern wie ein besorgter Vater, der die Auswirkungen der ungewöhnlichen Verbindung auf das spätere Leben seiner Tochter fürchtet. Als Cassio setzt Heße für den Zuschauer kleine Signale, die auf die innere Verfassung seiner Figur hindeuten, auf ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber Jago, dessen Intrige er ahnt, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen. Nach seiner ungerechtfertigten Degradierung verfällt er in ein inneres Weinen, das die Nöte der Figur auch psychologisch glaubwürdig und anrührend zeigt: Hier wird ein stolzer und vielversprechender Führungsnachwuchs unabänderlich gebrochen.
Trotz teilweise recht krasser Mord- und Sterbeszenen wirkt die Inszenierung karg und konzentriert. Das führt insbesondere nach der späten Pause zu Längen. Immer wieder wird in einem engen Kasten gespielt, der die Engstirnigkeit der aristokratischen Gesellschaft symbolisiert und in dem insbesondere der groß gewachsene Othello nur in gebückter Haltung, auf ein der Gesellschaft akzeptabel erscheinendes Maß zusammengestutzt, Platz findet. Packend wird die Aufführung immer dann, wenn neben der Sprache andere inszenatorische Mittel eingesetzt werden, wenn z. B. Videos oder Schattenbilder, Fratzen oder knochige Hände an den Fenstern der kleinen Box oder ein übergroßer Schatten Desdemonas mit dem Kopf eines vor ihr knienden Mannes in Höhe ihres Schoßes das drohende Unheil oder die aufkeimenden Zweifel Othellos illustrieren.
Am Ende ersticht sich Othello nicht, sondern er bleibt einsam zurück. „Wer sind Sie denn?“, fragt Rodrigo, der bisherige Underdog. Othello ist nun endgültig ausgegrenzt; der einst erfolgreiche, charismatische und sexuell attraktive Schlachtenlenker ist völlig marginalisiert. Endlich hat der Fremde jeden Einfluss verloren. Die Inklusion ist gescheitert.