Zeitenwende: Der Sommer des Jahrhunderts
Sie war einer der Tophits auf den Gabentischen zum Weihnachtsfest 2012. Auch der Autor dieser Zeilen hat sie verschenkt und ließ sie sich schenken: Florian Illies‘ feuilletonistische Zusammenstellung von Anekdoten über die Promis aus dem Kulturbetrieb des Jahres 1913 und über ein paar junge Leute, die später als Politiker den desaströsen Verlauf des beginnenden Jahrhunderts gestalten sollten, wurde inzwischen in 300.000 Exemplaren verkauft und in 17 Sprachen übersetzt. Das Buch ist nett zu lesen – und hoffnungslos überschätzt.
Zugegeben: Illies zeigt auf, dass die allgemeine Auffassung, die erste große Zeitenwende des 20. Jahrhunderts sei erst mit dem 1. Weltkrieg – also nach 1914 – eingetreten, ein Irrtum ist. Der „Urknall der Moderne“, wie es der Oberhausener Dramaturg Rüdiger Bering ausdrückt, wurde nicht erst durch die Kriegserfahrung ausgelöst. Im Jahre 1913 war das Neue schon da – seine Durchsetzung und vor allem seine Wahrnehmung wurde durch den Krieg nur unterbrochen. In hübschen, oftmals auch amüsanten Miniaturen erzählt Illies von Rilke und Kafka, von Thomas Mann, Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, von Oskar Kokoschka und Alma Mahler sowie von den neuartigen Bilderfindungen von Picasso, Malewitsch und Marcel Duchamps, von Freud und Carl Gustav Jung und anderen. Und von Hitler und Stalin, unbekannten, gerade scheiternden jungen Männern, die sich gleichzeitig in Wien aufhalten, aber einander natürlich noch nicht kennen. Nicht die großen Werke der Künstler in diesem „Sommer des Jahrhunderts“, wie Illies ihn nennt, stehen im Vordergrund, sondern die kleinen und großen Sorgen, die Liebesaffären und Intrigen, die Sehnsüchte und die seelischen Leiden - und Rilkes Schnupfen. Hypochondrien – und oftmals eine Dekadenz, die wir meist erst in den Wilden Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts verorten.
All das schildert Illies mit Ironie und sprachlicher Eleganz, mit Gespür für den Wechsel zwischen Anekdote und Information – und für die Lust des Lesers am Klatsch. Und auf mehr als 300 Seiten – Monat für Monat zwischen 18 und 36 Seiten, immer im selben gediegenen Stil, immer mit denselben Protagonisten. Das ist – leider – des Guten zu viel; nach der Hälfte der Strecke glaubt man, alles zu wissen, und die anfänglich große Leselust erlischt. Am Theater Oberhausen hat sich nun der rumänische Regisseur Vlad Massaci, der bereits in der Spielzeit 2011/12 am Haus gearbeitet hat, des Stoffes angenommen. Er trifft den Ton des Buches perfekt – und geht auch dessen Schwächen auf den Leim. Zweidreiviertel Stunden dauert die Aufführung inkl. einer ausgiebigen Pause – das ist genauso zu lang wie die 300 Seiten Lesestoff. Auch die sanguinische Atmosphäre des Buches wird exakt getroffen, ebenso wie das moderate Erzähltempo. Der Gefahr, dass dies allzu schnell zu Langeweile beim Publikum führt, versucht die Regie zu entgehen, indem sie einen Pianisten auf die Bühne stellt: Robert Weinsheimer begleitet nicht nur die eine oder andere Szene mit den passenden musikalischen Rhythmen, sondern er stimmt auch ab und an mit dem gesamten Ensemble ein Liedchen aus der Zeit vor hundert Jahren an. Das hat in den besten Momenten Ansätze von revueartigem Charakter, und in der Tat wäre eine Revue vielleicht eine passende Form für die Bühnenfassung von Illies‘ Buch. Massaci und sein Ensemble aber kleben atmosphärisch eng am Original.
Immerhin: Die Liedchen und Musikeinspielungen lockern auf – und lassen oft schmunzeln. Noch stärker als Illies in seinem Buch setzt die Oberhausener Aufführung auf das Stilmittel der Ironie, ohne dass dabei jemals eine der Figuren denunziert wird – es liegt ein liebevolles Lächeln über der Szenerie. Klaus Zwick gelingt ein kleines Kabinettstückchen als Hitler in seiner Verkörperung durch Charlie Chaplins „Großer Diktator“; bereits zuvor hat er bei der zufälligen Begegnung im Schlosspark Schönbrunn mit Stalin „Schnick-Schnack-Schnuck“ gespielt, und als er im Anschluss seine Arme ausschüttelte, erhoben sie sich unwillkürlich zu einer Art „Deutschem Gruß“. Kafkas grotesk zögerliche Annährungsversuche an die geliebte Felice Bauer (erst fünf Tage vor der Premiere eingesprungen: Nora Buzalka) bilden einen der Hauptstränge der Erzählung: Die Ironie, mit der Illies die Vorgänge schildert, transferiert Sergej Lubic unmittelbar in seine Figur, so dass Kafka in Oberhausen überraschend witzige, lebhafte Züge trägt. Lubic traut sich, seinen Kafka von der überlieferten historischen Figur zu lösen, abzuweichen von der Erwartungshaltung des bildungsbürgerlichen, mit dem Prager Autor vertrauten Publikums – und entwickelt so ein größeres Charisma als die meisten seiner Kollegen. Neben Lubic und Zwick ragen vor allem Moritz Peschke als unsterblich verliebter Oskar Kokoschka und Lise Wolle als vor diesem Liebhaber flüchtende Alma Mahler schauspielerisch aus dem Ensemble heraus.
Unauffällig führt Hartmut Stanke als Moderator und Conferencier durch die vielen Szenen und Figuren. Dass die „neue Zeit“ schon im Jahr vor dem 1. Weltkrieg begonnen hat, lässt sich nicht übersehen: Sei es beim Kostüm von Anja Schweitzer, die die Lasker-Schüler im Federrock und mit ausladendem, schrillem, Ascot-reifem Perückenhut gibt, sei es in Marcel Duchamps‘ Readymade „Roue de Bicyclette“, dem Fahrrad-Rad auf Küchentisch, das im Jahre 1913 eine Revolution in der Kunst darstellte und in der Oberhausener Schluss-Szene an der Bühnenrampe aufgebaut wird. Der Blaue Reiter sorgte für kontroversere Diskussionen als es das Regietheater in unseren Tagen zu tun vermag; Gertrude Stein schrieb ihre „Sacred Emily“ mit dem berühmten, in Oberhausen von Anna Polke sehr originell zitierten Satz „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ und kassierte sarkastisch formulierte Absagen von ihren Verlegern, und ein anderer Heiliger, nämlich Strawinskys Sacre du Printemps sorgte bei der Pariser Uraufführung für handgreifliche Auseinandersetzungen im Publikum. Und bei Ford in Detroit wird erstmals ein Fließband eingesetzt. Ganz am Ende scheint er sich dann doch anzukündigen, der Große Krieg: Hinter der Bühnen-Installation, einem riesigen Berg aus wüst ineinander verhakten Stühlen, steigt Rauch auf. Marie Möllers Silvestergedicht aus der Welt der Frau vom 31.12.1913 erklingt: „…dass des Weltkriegs Melodie nicht länger drohend schalle…“ Da hatte jemand Ahnungen. Im warmen Bühnenlicht von Stefan Meik, vor der Bühnenbild-Installation, dreht sich wie ein Versprechen auf eine schönere, modernere Zukunft Duchamps‘ Fahrrad-Rad.
Es ist ein bunter Bilderbogen, den das Oberhausener Ensemble uns vorführt; es ist ein wohliges bildungsbürgerliches Vorbeirauschen all der Gestalten, die dem einen im Publikum von fern und der anderen ganz nah bekannt sind. Besonders emanzipiert von der Vorlage hat sich die Inszenierung nicht – wenn Werktreue ein Qualitätsmaßstab ist, ist die Aufführung exorbitant gelungen. Und doch plätschert sie ein wenig ereignislos dahin, meist in gleichem Rhythmus. So recht eintauchen in die Zeit vor 100 Jahren wollen wir nicht. Irgendwie ist die Aufführung wie das Buch: Ganz nett, aber wir haben uns mehr davon versprochen. Freundlicher, aber nicht enthusiastischer Applaus.