Totes Schaf im Teich
„Ein Theaterstück über das, was man nicht sieht“, nennt FC Bergman seine Performance. Außerdem ist es ein Theaterstück, in dem man nicht spricht. Und das Ergebnis? Mathematisch 450.000 el³ (um das Absurde des Titels noch einmal zu steigern), de facto aber 70 Minuten pralles Bildertheater. Von atemberaubender Suggestivkraft und unwiderstehlichem Sog.
Was man nicht sieht, begibt sich in archaisch anmutenden winzigen Hütten in einem tiefen dunklen Wald. Die Hütten bilden ein kleines Dorf und gruppieren sich rund um einen winzig kleinen Teich, an dem in stoischer Ruhe nahezu die komplette Spieldauer über ein Angler sitzt. Mit Ausnahme des Anglers sieht man die Menschen, die in diesen Hütten vegetieren, selten auf der Bühne. Stattdessen sieht man den Kamerawagen, der unermüdlich das Dorf umkreist. Die Hütten haben keine Rückwand, und so kann die Kamera von hinten das dumpfe Leben höchst absonderlicher Dorfbewohner portraitieren. Gestochen scharf werden die Bilder auf einen riesigen Bildschirm hoch über der Bühne geworfen.
Das Leben der Menschen scheint kaum weniger archaisch als die Hütten selbst. Zu Beginn liegt ein alter Mann regungslos wie Oblomow im Bett. Bei fröhlichen Verdi-Klängen registrieren wir irgendwann, dass er wohl im Sterben liegt. Mühsam befreit er sich vom Gehänge seiner lebenserhaltenden Infusion, nimmt eine Axt und verschwindet im Wald. Die Dorfbewohner treten auf den Platz; andächtig, aber auch schaudernd lauschen sie den Klängen der Axt. Zimmert Opa sich seinen Sarg? Der Lärm schwillt an zu einem Grollen – selbst die Stühle wackeln, auf denen wir sitzen. – Zurück bleiben in Haus 1 ein kleiner Junge und eine Taube im Käfig.
In einem anderen Haus sehen wir eine Familie beim Essen. Genauer gesagt: Die Mutter stopft das Essen in sich hinein, Vater kommt mit dem Servieren kaum nach, die geistig behinderte Tochter hat Hunger. In einer weiteren Behausung onaniert freudlos ein unbehoster Mann, und seine Frau schaut lustlos an ihm vorbei. Vergebens versucht sie, ihrer Verstopfung Herr zu werden. Ein junges Mädchen übt Klavier, endlos, immer das gleiche Stück. Gestrengen Blickes schlägt die Mutter und Lehrerin dazu den Takt, unerbittlich und gefühllos wie ein Metronom. Ein paar grenzdebile junge Männer sitzen in einem anderen Raum zusammen und spielen Dart, und im Haus ganz rechts experimentiert ein ebenfalls nicht mit allzu hoher Intelligenz gesegneter junger Mann mit Soldatenhelm auf dem Kopf mit Sprengstoff. Puff!
Die Bühne und die kurzen, von der Kamera übertragenen Szenen erscheinen zunächst wie ein Wimmelbild eines dumpfen, jeglichen Sinns beraubten Dorflebens. Doch mit jeder Runde, die der Kamerawagen dreht, werden die Bilder absurder, die Szenen grotesker. Langsam schälen sich kleine Geschichten heraus. Der kleine Junge holt die Taube aus dem Käfig und erschlägt sie an der Schreibtischkante. Kurz sieht man die Strichliste auf dem Schreibtisch – the holy dove, it will be caught again…. - Vater hat zu schnell gekocht: Der tote Fisch, der der fresssüchtigen Mutter serviert werden soll, bewegt noch Schwanzflosse und Kopf. Später, als die Vorräte verzehrt sind, wird Mutter Teile des Mobiliars futtern. – Die droben über dem Lokus vergeblich drückende Frau greift tief in die Klomuschel und holt eine echte Muschel heraus; der Telefonhörer des onanierenden Mannes mutiert zum Duschkopf. Die Dart-Jungs spielen Wilhelm Tell (wahlweise William Burroughs) und greifen zu Apfel und Armbrust – ein oder zwei Kamerarunden später sitzt der Underdog von ihnen mit blutigem Verband über dem rechten Auge am Tisch, ungerührt, ein Opfer zwar in seinem ganzen Verhalten, aber weder willens noch fähig, sich von seinen fragwürdigen Freunden zu lösen. Und die gestrenge Klavierlehrerin schläft taktschlagend ein.
Der Schlaf der Gestrengen gebiert die ungeheure Geschichte des Abends: Überraschenderweise hat Tochter nicht nur ein Klavier, sondern auch einen Lippenstift. Ab geht‘s ins Haus des Soldaten. Als sie zurückkehrt auf Mutters markerschütternden Schrei, ist diese um Jahre gealtert. Die Tochter verschwindet mit dem Soldaten zu mitternächtlichem Liebesspiel, doch an ihrer Stelle findet der Soldat plötzlich eine Schlange auf seinem Körper. Eva, die ewige Verführerin, rennt rasch zurück ins Dorf. Der Soldat aber wird von den Männern des Dorfes in seinem Haus eingesperrt, die Tür wird vernagelt, und die Klavierspielerin beginnt wieder zu spielen, dilettantisch wie nie zuvor. Weniger dilettantisch geht der Soldat vor: Endlich klappt das Sprengstoff-Experiment; tot liegt er bei der nächsten Kamerafahrt in der Ecke, und die Trümmer großer Steinhäuser stürzen vom Himmel.
Spätestens mit dem mitternächtlichen Sündenfall bekommt der Abend eine starke religiöse Konnotation. Dieses Dorf erscheint von Gott verlassen, und doch suchen seine Einwohner auf eine bigotte, fundamentalistische Art nach seiner Nähe, nach Erlösung, vielleicht nach einem Sinn des Lebens. Die meisten Jünger Jesu waren Fischer, und tatsächlich ist der sonst so stoische, unbewegliche Angler Auslöser religiöser Rituale. Schlag 24 Uhr hat er „Oh Heavenly Salvation“ aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny angestimmt, in das alle Bewohner des Dorfes einfallen. Ein Sturm war über das Dorf hinweggezogen, und aus dem Anglertümpel war ein totes Lamm aufgetaucht - vielleicht das Opferlamm, vielleicht der in diesem Dorf längst tote Jesus Christus als „Lamm Gottes“. „Oh Heavenly Salvation / our precious city has been spared / … / the storm has ended / and death steps back into the waters“, heißt es nun, und dazu wird in den meisten Häusern gefickt - so kraft- und lustlos wie man in dieser bigotten, hermetischen Gesellschaft lebt. Und Eva, die Schlange, die Verführerin lockt ihren Soldaten in den Tod, und Trümmer stürzen vom Himmel…
Stoisch blickt der Angler in den Teich. Und taucht den Kopf in einen Wassereimer. Nach und nach bevölkern alle Dorfbewohner den Platz und tun es ihm nach. Es ist das Reinigungsritual nach dem vom Dorf verschuldeten Tod des Soldaten. Musik setzt ein. Eine tolle Choreografie beendet den Abend - mit „Sinnerman“ von Nina Simone: „So I run to the Lord, please hide me Lord, / Don’t you see me prayin‘ / … / But the Lord said „Go to he Devil“ …
Mit diesem fröhlichen Gospel-Song bittet die krude Gesellschaft um Erlösung. Es war ein verdammt bigottes Volk, dem wir 70 Minuten lang fasziniert gefolgt sind, und doch dürften die Macher des FC Bergman (der Name steht für den Geist des Kollektivs wie bei einer funktionierenden Fußballmannschaft und die Kraft der Filme von Ingmar Bergman) deren Leben und deren Verhalten als Metapher für das menschliche Dasein schlechthin gedacht haben, für die Leere, die Qual und die Trostlosigkeit – und für das Bemühen, dem Leben Sinn und Stabilität in einer hermetischen Gemeinschaft oder im Glauben zu geben. Dieser Glaube allerdings erscheint einerseits nur noch ritualisiert und auf gedankenlose Weise automatisiert, andererseits so fundamentalistisch wie wir ihn hierzulande höchstens noch in den sektenähnlichen Verzweigungen einiger freier christlicher Gemeinden finden.
So düster die Beschreibung der Geschichte und des Dorfes klingen mag, so viel Humor und Poesie beinhaltet die Aufführung andererseits. Angesichts der Skurrilität der Figuren und der Absurdität des oft makabren Geschehens gibt es viel zu lachen. Mit ungeheurer Präzision und perfektem Timing greifen die Szenen ineinander – keine einzige Einstellung dieser oftmals filmischen Aufführung erscheint überflüssig oder zu lang. Henk van de Caveye hat phantastische Lichtstimmungen kreiert; Licht und Bühne erinnern an die unheimlichen, fast mystischen, aber auch überwältigend schönen Fotografien von Gregory Crewdson, an die Filme von David Lynch oder Luis Buñuel. Das Verstörende, das Düstere ist von dunkler, süchtig machender Schönheit. Standing Ovations – da capo, möchte man rufen.