Die Sache mit der Zwiebel
Hochstapler, Taugenichts, Mädchenschänder. Kaiser, Waffenhändler und Prophet. Wer eigentlich ist der wahre Peer Gynt? Zurückgekehrt nach 30 Jahre langer Weltreise ins heimische Gudbrandsdalen, sucht Peer nach seinem wahren Ich. Er schält eine Zwiebel. Doch: „Es sind so viele Schalen. Irgendwann muss ich doch mal an den Kern kommen.“ Aber da sind nur immer dünner werdende Schalen. Da ist kein Herz, da ist kein Kern. Peer Gynt – nur eine hohle Nuss?
Exakt, konstatiert der Knopfgießer, der Tod und Teufel symbolisiert: Der Forderung „Sei Du selbst“ jedenfalls habe Peer nie genügt, und so wird niemand die hohle Nuss, die kernlose Zwiebel vermissen: „Was macht es schon, wenn Du verschwindest?“ Peer hat nur die Philosophie der Trolle beherzigt: „Sei Dir selbst genug.“ Und das ist nicht genug, um dem Teufel von der Schippe zu springen. Dass es da das reine Mädchen Solveig gibt, das ein ganzes Leben lang auf Peer gewartet hat und ihn nun errettet, weil Peers wahres Selbst „in meinem Glauben, meiner Hoffnung, meiner Liebe“ gewesen sei, erscheint im 21. Jahrhundert ein wenig befremdlich. Seine Bestimmung findet Peer eher zufällig in der Liebe eines Mädchens, das er vor vielen Jahrzehnten sitzen ließ…
Die Metapher von der Zwiebel und der Unterschied zwischen „Sei Du selbst“ und „Sei dir selbst genug“, zwischen einem klaren Lebensentwurf und dem opportunistischen Leben eines Taugenichts‘, der sich in seiner eigenen Lebenslüge verliert, ist auch der Kern von Ibsens Weltendrama. Wer ist dieser Peer Gynt – das ist auch die Frage, die den Dortmunder Schauspieldirektor Kay Voges interessiert, der das Stück nach dem Verzicht des ursprünglich vorgesehenen dänischen Regisseurs Jonas Corell Petersen innerhalb von nur dreieinhalb Wochen auf die Bühne wuchtete. Peers Jägerlatein vom wilden Ritt auf einem Rentier-Bock entlang des gefährlichen Gjendegrat, mit dem er vor seiner Mutter Aase aufschneidet, wird nacheinander von allen sechs Schauspielern gesprochen: Ein jeder ist Peer, und ein jeder spricht die Geschichte anders, gibt ein Stück von seiner eigenen Individualität hinein in die Figur: Sebastian Graf, Julia Schubert, Bettina Lieder, der bei seinem Debüt nach Abschluss der Schauspielschule nahtlos sich in das brillante Ensemble einfügende Peer Oscar Musinowski, Uwe Rohbeck – und ganz zum Schluss auch Friederike Tiefenbacher, die die Mutter Aase spielt. Alle spielen Peer – und viele wichtige Figuren werden auf verschiedene Schauspieler verteilt. Nicht jedoch Mutter Aase und Solveig: Die positiven, standhaften Frauenfiguren, bei denen Peer Halt findet, bleiben identifizierbar; Aase und Solveig bleiben: sie selbst.
„Als Festschmaus für Würmer und Maden hättest du erstmals die Möglichkeit, dein Innerstes mit anderen Lebewesen zu teilen“, heißt es bei Voges einmal in unübertroffenem Sarkasmus. Doch was soll Peer teilen, hat doch diese Zwiebel keinen Kern. Auf der Suche nach dem Glück und vollkommener Zufriedenheit wechselt Peer rastlos die Rollen – notfalls gibt es auch schon mal Persönlichkeitsveränderung per Spritze. Moral spielt dabei keine Rolle – in Voges‘ aktualisierter Version hat Gynt Religion studiert, sich (vorgeblich zur Erhaltung von Arbeitsplätzen) im Waffenhandel betätigt und im Gegenzug Missionare in die Krisengebiete der Welt exportiert. „Wer nichts Übles tut, tut Gutes“, ist Peers Conclusio, und er entwickelt seine Lebensphilosophie: „Tue Gutes, verdiene viel Geld und zahle Steuern.“ Doch glücklich wird Peer nicht, „I can’t get no satisfaction“ spielt der Musiker Thomas Truax live von seiner Empore, Peer will Kaiser werden und landet doch im Irrenhaus des Dr. Begriffenfeldt. „Die reine Vernunft ist gestern Nacht um 11.00 h verstorben“, klagt Begriffenfeldt. „Die Vernunft ist aus der Haut gefahren.“ – Voges‘ Spielfassung kann in diesen Momenten nicht nur als Gesellschaftsanalyse, sondern auch als Kapitalismuskritik aufgefasst werden.
Kay Voges hat das oft mit Überlänge gespielte Stück (Peter Stein brauchte 1971 für seine legendäre Inszenierung an der Schaubühne Berlin mehr als sechs Stunden) auf eineinhalb Stunden eingestrichen. Obwohl Voges nahezu alle wesentlichen Szenen des Dramas anspielt, ist es für Zuschauer, die Henrik Ibsens Drama nicht kennen, schwierig, dem Verlauf von Peer Gynts Welt-Tournee zu folgen. Mit gutem Willen und gebührender Konzentration werden sie aber die zentralen Aussagen der Inszenierung erfassen, zumal die endlich auch überregional an Aufmerksamkeit gewinnende Kreativität des Dortmunder Schauspiels erneut frappiert. Schrille Kostüme, schnell wechselnde und live aufgebaute Requisiten fesseln das Auge - u. a. liegt Friederike Tiefenbacher für einige Sekunden in exakt dem Sarg, dem Uwe Rohbeck zu Beginn von Jörg Buttgereits „Kannibale und Liebe“ als Frauenmörder Ed Gein entsteigt. Mit acht Tonnen Wasser hat das Technik-Team die Bühne geflutet, was nicht nur Ex-Oberliga-Fußballer Musinowski Raum für ein paar sportliche Kunststücke bietet: Die exzellente Lichtregie nutzt die reflektierende Wirkung des Wassers, um großartige Stimmungen an die Wände zu zaubern; die Schauspieler, aufgrund des schnellen Galopps durch das Stück zu permanenten Rollenwechseln gefordert und wie so oft in Dortmund scheinbar chaotisch, de facto aber ungeheuer exakt spielend, ziehen sich in Windeseile um und waschen die mal blau, mal grün, mal rot angemalten Gesichter notdürftig im Wasser rein - sie wechseln ihre Identität also im Vorübergehen. Die Zuschauer auf den billigeren Plätzen berichten, dass sich auf diese Weise das Wasser im Laufe der Inszenierung immer trüber färbt und die Spiegelungen der Schauspieler im Wasser sich verändern – das sieht man nicht in den ersten Reihen im Parkett, aber wir interpretieren es mal als weitere Metapher für ein langsames Verschwinden der Identität, des „Man-Selbst-Seins“.
Immer wieder leuchtet der kleine Balkon auf, von dem herab der exzellente New Yorker Musiker und Songwriter Thomas Truax das Geschehen kommentiert: mit dem erwähnten „Satisfaction“, mit „You are the only one“ (welche Ironie bei sechs Gynts!) und vor allem mit einer Vielzahl von selbst geschriebenen Songs, die über mögliche inhaltliche Verständnisprobleme beim Szenen-Galopp hinweghelfen. Truax beantwortet auch die Frage, wer dieser Peer Gynt denn eigentlich ist: „This Peer’s a bit like you and me“, singt er am Ende. - Nun denn, sagen wir kernlosen Zwiebeln – und jubeln trotzdem: Kay Voges hat trotz ungeheuren Zeitdrucks wieder eine Inszenierung gestemmt, die in der Vielzahl der „Peer Gynt“ Aufführungen in Deutschland ein kreativer Solitär ist. Auch der konventionell orientierte Zuschauer sollte sich darauf einlassen: dann wird er ebenso jubeln wie das Premieren-Publikum.