Nora³ im Schauspielhaus Düsseldorf

Nora in der Hemdfabrik

Und ewig lockt das Weib: „Dann werde ich für dich als Elfe im Mondschein tanzen“, verspricht Nora, als sie ihren Torvald um Gnade für Krogstad anfleht. Auch der politisch korrekte Zuschauer kann sich an dieser Stelle ein Schmunzeln nicht verkneifen: Nora Helmer, Torvalds kleines Singvögelchen, wird von Stefanie Reinsperger gespielt. Die hat gerade den Düsseldorfer Publikumspreis Gustaf als beste Nachwuchsschauspielerin erhalten, und man schätzt sie in Düsseldorf für alles Mögliche, aber nicht fürs Elfenartige. Man bewundert sie u. a. für ihren Mut. Immer wieder stellt sie ihren massigen Körper aus in der Verkörperung von Figuren, die wir uns eher zart oder zumindest hübsch vorgestellt haben: Kleists Eve, Grillparzers Medea zum Beispiel. Laut und lustvoll wirft sie sich in diese Figuren, mit derbem niederösterreichischem Dialekteinschlag – und dann zeigt sie, welch sensible, verletzliche schöne Seelen sich manchmal hinter der Fassade der Wuchtbrumme verstecken. Die Nora jedenfalls ist mal wieder gegen den Strich besetzt – und Steffi Reinsperger bringt das am Schluss eine Portion Extra-Applaus vom Premierenpublikum ein.

Ungewöhnlich ist der ganze Abend. Ibsens Nora wird eingebettet in Elfriede Jelineks im Jahre 1979 uraufgeführtes, aus heutiger Sicht ein wenig unbeholfen feministisches Debut-Drama Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, in dem das ehemalige Singvögelchen als Arbeiterin in der Textilfabrik anheuert. Außerdem wird ein von Jelinek eigens fürs Düsseldorfer Schauspielhaus geschriebener Text angehängt: Nach Nora, eine Textfläche wie sie für die heutige Jelinek üblich ist und die sich um Konsumterror, Ausbeutung und verantwortungslose Auslagerung von Produktion in Drittweltländer mit katastrophalen Sicherheitsstandards dreht. Nehmen wir’s vorweg: Jelinek-Textflächen können andere besser inszenieren.

Der Rest ist höchst unterhaltsam. Heiterer, so hatte Interims-Intendant Manfred Weber angekündigt, solle der neue Spielplan des Hauses werden, hatte doch das Publikum dem Düsseldorfer Schauspielhaus wegen angeblicher Düsternis und intellektueller Verkopftheit die Gefolgschaft aufgekündigt. Das war ein umstrittenes Statement, von dem die künstlerisch ambitionierteren Freunde des Hauses immer noch in manch schlafloser Nacht alptraumartig heimgesucht werden. Doch tatsächlich wird der Start mit Jelinek heiter: Deutlich niederösterreichelnd, bewirbt sich Nora als kesse Arbeiterbraut; der ebenfalls nicht gerade schlanke Rainer Galke als Personalchef Fellner schnackt Kölsch, die aus Zürich neu ins Ensemble gekommene Sarah Hostettler als „Betriebs-Linke“ und „Ombudsfrau“ Eva spielt sich in Windeseile mit einem charmanten Schwyzerdütsch in die Herzen der Zuschauer, Till Wonka als Vorarbeiter Franz sächselt (aber nicht so doll), und Bettina Ernst, die manchmal durchaus militante Töne anschlagende Gewerkschafterin Marie-Anne, erinnert an ihre südhessische Jugend. Die Diskussionen, die folgen, gehen uns alle an, soll das heißen, was auch durch das weiterhin brennende Licht im Zuschauerraum, dem die Protagonisten nach und nach entsteigen, unterstrichen wird. Es geht um Kinderkrippen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um Noras höchst umstrittene Entscheidung, die Kinder abschiedslos zurückzulassen – schnell gibt’s heftige Kontroversen, die den armen Personalchef und Arbeitgebervertreter zügig zur Nebenfigur degradieren. Gesprochen wird so schnell, dass man nicht immer alles mitkriegt, aber für Lacher ist gesorgt mit hübschen neu eingefügten Bonmots und mit alten feministischen Kalauern der jungen Jelinek: „Im normalen Leben wird der Wert der Frau durch die Sexualität bestimmt.“    

So war’s ja denn wohl auch bei den Helmers. Singvögelchens eigene Meinung war bei Torvald nicht gefragt, aber kaum kommt der heftig angesäuselt vom weihnachtlichen Kostümfest zurück, geht er Nora an die Wäsche. So steht das bei Ibsen, und als der Textilmagnat und Multifunktions-Strippenzieher Konsul Weygang aus Jelineks Frühwerk den Namen der Bewerberin erfährt, kommt er spontan auf die Idee, die Belegschaft Theater spielen zu lassen. Sehr hübsch gelingt der Übergang: Galke, nunmehr seriöser als künftiger Bankdirektor Torvald, und Reinsperger spielen die ersten Sätze wie gehemmt: Laientheater, Spiel im Spiel. Schnell spielen sie sich frei, und in einem Affenzahn galoppieren Regisseur Dušan David Parizek und sein Team nun durch den Ibsen. In gut einer Stunde ist dessen Nora abgearbeitet. Rainer Galke kann die ganze Bandbreite seines schauspielerischen Repertoires zeigen: Nach dem jovialen Personalchef jetzt der spießige Ärmelschoner-Bürokrat Helmer? Ja, das auch, aber dieser Helmer zeigt Züge, die wir bislang bei Torvald nicht kannten: Er ist cholerisch, geradezu jähzornig manchmal, schlägt auch schon mal zu und knallt seine geliebte Nora brutal an die Wand. Nora ist zwar manchmal naiv, aber meist recht direkt, derb und undiplomatisch; Frau Linde (erneut Sarah Hostettler) scheint zunächst ein wenig verbittert und entwickelt sogar ein wenig Arroganz, springt aber später ganz ungeniert und gelöst sofort mit Krogstad in die Kiste; Letzterer ist bei Till Wonka nicht nur ein Intrigant und Ekelpaket, sondern ein verzweifelter, Mitleid erregender Bittsteller, und der todkranke Doktor Rank wirkte selten so isoliert in seinem Leid wie in dieser mitleidlosen, radikal ichbezogenen Gesellschaft. Mit nobler Zurückhaltung zeichnet Michael Abendroth ein erschütterndes Psychogramm eines Mannes, der gerade von seinem sicheren Tod erfahren hat und spürt, dass das niemanden interessiert.

So erfahren wir in diesem ungewöhnlich kurzen Nora-Flashlight eine Menge Neues über die Ibsen-Figuren. Naturgemäß muss in dieser Kürze manches holzschnittartig bleiben; etwas zeigefingermäßig wird auf die Parallelität der Untaten (sprich: Unterschriftenfälschungen) von Nora und Krogstad verwiesen. Aber Pa?ízek bügelt sogar die größte Peinlichkeit des Ibsen’schen Stückes aus: die unsägliche Sache mit dem Briefkasten. Im Original spürt man die Not des alten Norwegers, die Eskalation angemessen über die Bühne zu kriegen. Parízek ironisiert das einfach, lässt einen riesigen, wahrlich unübersehbaren Karton mit Briefschlitz in die Mitte der Bühne stellen, und Nora schreit völlig überdreht: NEIIIN, KEINE POOOST!! – Und anstatt sich gegen Torvalds im Original völlig absurde Gelüste, nach Rückkehr von der Weihnachtsfeier erstmal in den Briefkasten zu gucken, zu wehren, hindert sie ihn nur an seinen handgreiflichen Annäherungsversuchen: „Lies deine Briefe, Torvald!“ – 1 : 0 für Parizek gegen Ibsen.

Die Aufführung ist inzwischen zunehmend expressiv (und auch ein wenig surreal) geworden. Jetzt aber steht die eindrucksvollste Szene bevor: Das Bühnenbild, ein tödlich langweiliger monotoner Guckkasten, fliegt auseinander. Das Haus und die Familie Helmer lösen sich auf. „Nora“, ruft Torvald, „Nora“. Mit Hall. Major Tom fliegt davon. Allein.

Dass die emanzipierte Nora nun glücklicher wird, bezweifelt Elfriede Jelinek. Der kulturelle Höhepunkt der Textilfabrik-Betriebsversammlung ist vorüber; Jelineks Debut-Stück geht weiter: es gibt ein paar ironische Eifersuchts-Plänkeleien; Personalchef Galke und Konsul Weygang handeln so eine Art jus primae noctis auf Nora aus. Und die Fabrik wird wegen Unrentabilität geschlossen: kik geht halt nach Bangla Desh. Jelineks neue, eigens für Düsseldorf geschriebene Textfläche setzt ein. Das Ensemble steht nun zusammen an der Rampe und preist marktschreierisch ein weißes Billig-T-Shirt an. Mit Jelinekschen Anklagen gegen Globalisierung, mangelhafte Sicherheitsvorschriften, Ausbeutung und die Mode im Allgemeinen sowie ihr Suchtpotential im Besonderen. Das dauert eine geschlagene Viertelstunde. Von einer kurzen Reinsperger-Bemerkung abgesehen, ist dem Regisseur zur Textfläche nichts eingefallen – nun, diese gehört auch nicht zu Jelineks Geniestreichen.

Der Applaus für die Schauspieler war lang, die Meinung zur Regie gespalten. Aber: Bei Parízek wird es nie langweilig. Manchmal schien der Abend ein wenig mit der Machete inszeniert, dann wieder gab es überraschend feinfühlige und nachdenklich machende Passagen. Die guten Schauspieler sind nicht auf dem herausragenden Niveau wie bei Parízeks Zerbrochnem Krug am gleichen Haus, und die Inszenierung ist nicht von der hohen intellektuellen Komplexität von Parízeks Faust hoch drei, der jetzt von Schauspielhaus Zürich nach Düsseldorf wandert. Dennoch ein zweifellos gelungener Abend.