Die Anonymität der Großstadt
Im Jahre 1961 hatte im Théâtre de l’Odéon Paris eine Neuinszenierung von Samuel Becketts Warten auf Godot Premiere. Regie führte Roger Blin, und das Bühnenbild entwarf Alberto Giacometti. Ja, genau der: der berühmte, auch knapp 50 Jahre nach seinem Tod immer noch umschwärmte Schweizer Bildhauer. Und wie sah es aus, das Bühnenbild? Ja, natürlich: Es bestand aus dem Beckett-Bäumchen, einem kahlen, verkümmerten Gewächs, wie es Beckett bereits in seiner Regieanweisung für die Aufführung seines Stückes vorsah und wie es noch heute die Bühnen nahezu aller Aufführungen von Warten auf Godot dominiert. Da hätte man ja gleich drauf kommen können: Die zwei, drei dürren Äste, die schlanke, ein wenig verkrüppelte Struktur der meisten dieser Theater-Bäume und die Ästhetik von Giacomettis superdürren Hungerkünstler-Figuren sind nicht nur wie füreinander geschaffen – sie könnten auch ein und demselben Brain entsprungen sein.
Im Jahre 2010 fand im Lehmbruck Museum Duisburg die bislang erfolgreichste Ausstellung in der Geschichte des Hauses statt: Zeitweise, so berichten die Organisatoren der Schau noch heute voller Stolz, musste angesichts des riesigen Publikumsandrangs gar der Zutritt zu der Sonderausstellung „Alberto Giacometti – Die Frau auf dem Wagen“ begrenzt werden. Schon damals hatte die Museums-Kustodin Marion Bornscheuer auf die langjährige, seit 1937 bestehende Freundschaft von Samuel Beckett und Alberto Giacometti und auf die Verwandtschaft der künstlerischen Ästhetik des Dramatikers und des Bildhauers hingewiesen. Bis zum 26. Januar 2014 ist im Lehmbruck Museum erneut eine Studioausstellung mit Werken des Schweizer Bildhauers zu sehen, und neben einer Fotografie von Giacomettis Bronze Der Platz aus dem Jahre 1948 steht ein Fernsehgerät, das in einer Endlosschleife Becketts extrem minimalistisches Fernsehstück Quadrat I+II zeigt. Der Autor realisierte das am 8. Oktober 1981 erstmals ausgestrahlte Stück für den Südfunk Stuttgart.
Trotz seiner strengen Struktur nannte Beckett das Werk ein „Ballett für vier Personen“. Vier Menschen, alle ganzkörperverhüllt in Kapuzenkleidern, wandern – nein, besser: schlurfen und hasten auf den Seiten oder den Diagonalen eines Quadrats entlang; niemals berühren sie einander und niemals betritt jemand die Mitte. Begegnen sich zwei oder drei der Figuren auf der Diagonale, so weichen sie einander aus, ohne das Zentrum des Spielfeldes zu betreten. Es gibt Auf- und Abtritte; mal sind zwei, mal drei, mal alle vier Personen auf der Spielfläche. In Quadrat I sind die Schauspieler jeweils in einer monochromen Farbe (blau, gelb, rot und weiß) gekleidet und ihre Gänge werden von Percussion-Klängen begleitet; es gilt vielen Rezipienten als eines der hektischsten und rauesten Performance-Stücke des Autors. Das mag diesen bewogen haben, unmittelbar eine zweite, ausschließlich schwarz-weiße Version (Quadrat II) ohne Musik anzuhängen, in der nur die schlurfenden Schritte der Figuren zu hören sind. Anders als im ersten Teil bewegen sich die Figuren nun nur noch langsam; Beckett soll diese „Fortsetzung“ des Stücks als unmittelbaren Transfer der noch jungen, schnellen Figuren aus Teil eins in eine Art düsterer, hoffnungsloser Endzeit verstanden haben.
Max Juretzko und Natalie Kubitta haben mit dem Jugendclub des Theaters Duisburg eine neue Fassung des Quadrats erarbeitet, die sich ausdrücklich auf Giacometti und dessen Bronze-Skulptur „Der Platz“ bezieht. Und bei der gibt es … Text! Huch – der kann doch kaum von Beckett sein, so expressionistisch verschwurbelt wie er ist? – Nein, das Team nimmt in seiner Inszenierung die Anonymität der Großstadt auf, die die fünf bei Giacometti einzeln auf dem rechteckigen Platz stehenden, so unbeteiligt aneinander vorbei schauenden Figuren ausstrahlen. Und so hat es denn in Georg Heyms Sonett Die Stadt von 1911 die entsprechenden Zeilen gefunden, die diese Atmosphäre in ähnlicher Düsternis, wenn auch mit erheblich mehr Pathos wiedergeben:
„Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt, / Unzählig Menschen schwemmen aus und ein. / Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein / Eintönig kommt heraus in Stille matt.“
Und einen kleinen Gag hat sich das Team erlaubt: Am Anfang und am Ende wird diese Strophe aus Heyms Gedicht zitiert – aber am Ende heißt es „Mehrtönig kommt heraus…“. Denn der Ton macht hier nicht die Musik, sondern er bezeichnet die Farbe der Kleider. In der Aufführung von Spieltrieb verschmelzen die beiden Teile von Becketts Quadrat miteinander; zu Beginn laufen alle Figuren in Bettlaken gehüllt und mit Pappmasken vor dem Gesicht herum, doch nach und nach schälen sich – weiterhin Masken tragende – monochrom farbige Figuren in Alltagskleidung heraus. Relativ bald setzt der Sound ein; mal hasten, mal schlendern die Figuren – und mal bleibt einer stehen: und zwar exakt in der Mitte des Quadrats, die bei Beckett Tabuzone war. Das wirkt aggressiver als im Original: Die Figur in der Mitte blockiert den Weg; sie stört, die übrigen müssen um sie herumlaufen, ausweichen wie auf dem überfüllten Markusplatz – und doch gibt es keinen Blickkontakt. Die von Juretzko/Kubitta eingeführten Masken verstärken diesen Eindruck – es ist wie in der Realität: Die Passanten ignorieren einander, und man blickt, wenn man denn blickt, in leere Gesichter der Entgegenkommenden. Die Aufführung stellt so die Frage, ob der Individualismus, ob die Abgrenzung, die wir im Alltag leben, uns denn tatsächlich so gut tut, und sie überführt Beckett und Giacometti in unsere heutige Welt.
Ausgerechnet Peter Handke, dieser leicht ins Esoterische abgedriftete weltfremde Literat, hat einmal einen Platz beschrieben, auf dem die Individuen ähnlich vereinzelt aneinander vorbeilaufen und der doch sehr lebhaft wirkt: „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ gibt sogar manches Mal Grund zum Schmunzeln. Schmunzeln oder Lächeln ist nichts, was Beckett oder der spätere Giacometti ihrem Publikum gönnten. Was wohl passiert, wenn wir es morgen dem Unbekannten auf dem Marktplatz gönnen?
Weiterführende Literatur: Marion Bornscheuer, Die Verwandtschaft der ästhetischen Prinzipien von Alberto Giacometti und Samuel Beckett, GRIN Verlag München 2012 (auch als E-Book)