Übrigens …

Der gute Mensch von Sezuan im Köln, Schauspiel

Weltdrama als Puppenspiel

Am Ende seines Literarischen Quartetts zitierte der kürzlich verstorbene Marcel Reich-Ranicki immer einen finalen Satz aus Brechts Gutem Menschen von Sezuan: „Wir stehen selbst enttäuscht und seh’n betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Sie sind es auch für die drei „Erleuchteten“, welche von fernen Galaxien auf die Erde kommen, um nach wahrhaft guten Menschen zu suchen. Es gibt sie, ansatzweise. Doch selbst die Beste unter Ihnen, Shen Te (ausgerechnet eine Prostituierte), fällt mit ihrem Altruismus ständig auf die Nase. Zu sehr erweckt ihr eigentlich bescheidener Besitz allseits Begehrlichkeiten. Auch Yang Sun, in den sie sich verliebt, hat es vor allem auf ihr Geld abgesehen, mit dem er seine Fliegerkarriere hofft wiederaufnehmen zu können. Shen Te vermag sich nicht anders zu helfen, als dass sie als personales Korrektiv den „bösen Vetter“ Shui Ta erfindet, in dessen Gestalt sie verfahrene Situationen regelt. Für die Götter ist dies keine befriedigende Bilanz. Aber sie vermögen sich nicht zu einem wirklichen Eingreifen durchzuringen, lieber lösen sie sich gewissermaßen in Wohlgefallen auf. Die irdische Welt muss mit sich selber zurechtkommen.

Der gute Mensch von Sezuan ist ein Stück voller Zweifel. Man könnte aus ihm sogar einen Zweifel am Sozialismus/Kommunismus herauslesen, eine politische Überzeugung, der Brecht samt Gattin Helene Weigel aber doch eigentlich sein Leben lang anhing. Wenn nur ein „Kapitalist“ in Gestalt des fiktiven, figürlich anverwandelten Vetters Shui Ta in der Lage ist, den Gang einer von niederen Begehrlichkeiten durchfurchten Welt einigermaßen im Lot zu halten, darf man an Glückwerdung durch Utopie kaum rechnen. Der Zusammenbruch des Sozialismus hat dies - außer in einigen verbliebenen Trutzburgen - nachträglich bestätigt. Das westliche System erfährt dadurch freilich keine moralische Aufwertung, aber es trägt zumindest unverblümt der Tatsache Rechnung, dass der Mensch ein unzulängliches Wesen ist, zum Guten fähig, aber dazu selten bereit.

Im Depot 2, der zweiten Spielstätte von Schauspiel Köln (etwas kleiner als Depot 1 im gleichen Haus, dem Carlswerk im Stadtteil Mühlheim) geht Regisseur Moritz Sostmann diesen Fragen erst gar nicht mit thesenhaftem Akademismus nach. Der gute Mensch von Sezuan ist für ihn kein Lehrstück im engeren Sinne, sondern eine vieldeutige Parabel, deren Gedanken er spielerisch vermittelt. Hierfür dient der Einsatz von Puppen. Bereits in der Ära von Karin Beier wurde mit Suse Wächter eine Puppenspielerin mit Produktionen beauftragt, wobei die Grenzen zwischen ihrer Kunst und realem Theaterspiel meist fließend blieben. Da Sostmann zu den vier Hausregisseuren gehört, die der neue Intendant Stefan Bachmann an sein Theater gebunden hat, wird interessant sein zu beobachten, wie häufig und in welchen Varianten das Puppenspiel auch künftig zum Einsatz kommt. Eine entsprechende Ausbildung, meist über die Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, haben immerhin auch der Bühnenbildner Christian Beck und die Darsteller Magda Lena Schlott, Johannes Benecke und Philipp Plessmann durchlaufen.

Abgesehen vom genuinen Reiz der Gliederpuppen, deren starre Mimik kaum als Defizit wirkt, hat ihr Einsatz Momente von Irrealität zur Folge, was die Aufführung ungemein lockert und gleichzeitig eine subtile Ironie einbringt, die nichts kabarettistisch Plattes an sich hat. Man könnte auch von Zauber sprechen. Eine besonders köstliche Puppenfigur ist Frau Yang, Mutter des windigen Yang Sun, der Shen Te vor allem heiratet (diese Szene animierend im Depot-Foyer), um wieder seiner Leidenschaft, dem Fliegen, frönen zu können. Die Blicke, welche Frau Yang unter ihrer strassbesetzen Brille in die Runde schickt, sind eine Nummer für sich. Auch die „realen“ Darsteller brillieren maskenhaft mehrdeutig. Wenn beispielsweise Stefko Hanushevsky (bislang vor allem in Frankfurt und Dresden tätig) sich durch den Wechsel von Kopfbedeckungen von einer Person in eine andere verwandelt, ist das von einer wahrhaft zirzensischen Virtuosität.

Die Ausstattung gibt sich sparsam: ein Schutthaufen als vorrangiger Blickfang, im Hintergrund ein (verschiedentlich benutztes) Klavier (immerhin wird Paul Dessaus Musik nicht ganz ausgehebelt); zuletzt ist die Bühne gefüllt mit aufgehängten Bettlaken. Ansonsten reizt Christian Beck aus, was ihm die provisorische Halle bietet, etwa das Blechrollo zum Auftritt und Abgang der Götter. Starker Beifall für die Darsteller (weitgehend ohne Rollenzuordnung), bei denen noch die Namen von Annika Schilling und Mohamed Achour nachzutragen wären. Von der Kritik wurde die Brecht-Aufführung übrigens besser bewertet als der eigentliche Auftakt mit Frayns Nackter Wahnsinn.