Übrigens …

Angst im Oberhausen, Theater

Dröger Thriller

Theo Schmich hat seinen einzigen stummen Auftritt gleich zu Beginn der Aufführung. Er sitzt an der Bar in Randolph Tiefenthalers Wohnküche und starrt vor sich hin. Ein paar Meter von ihm entfernt sitzt Sohn Randolph, genauso stumm, genauso brütend. Schmich, der Randolphs Vater spielt, erhebt sich und verlässt den Raum. Erst beim Schlussapplaus taucht er wieder auf. Anders als wir Zuschauer sehen Randolph und seine Familie den Vater im chronologischen Ablauf des Geschehens (nicht der Aufführung, denn die ist eine lange Rückblende) gelegentlich wieder. „Wir gehen Vater besuchen“, heißt es dann. „Niemand sagt: Ich gehe zu Papa ins Gefängnis.“

Ebenso wie Dirk Kurbjuweits vor gut neun Monaten erschienener Roman beginnt Martin Kindervaters Inszenierung mit dem Ende der Geschichte. Dem scheinbaren Ende jedenfalls. Dieter Tiberius, der im Untergeschoss des Hauses wohnte, ist tot. Erschossen. Tiberius war dem Ehepaar Tiefenthaler, als es ihn kennen lernte, „ein wenig seltsam, aber freundlich“ erschienen. Keineswegs dumm, denn er guckte gute Filme: Rain Man, Tootsie, Marathon Man. Ein Dustin Hoffman Fan. Man sah ihn selten; manchmal legte er Randolphs Gattin Rebecca einen Kuchen vor die Tür. Später auch mal Briefe mit anzüglichem Inhalt. Wieder ein paar Wochen später hatte er den Verdacht geäußert, dass Tiefenthalers ihre Kinder sexuell missbrauchten. Man sah ihn im Garten; er entpuppte sich als Stalker. Er zeigte Tiefenthalers wegen des angeblichen Missbrauchs an, drohte mit Publizität. Die Polizei, die von der Familie eingeschaltete Rechtsanwältin, das Jugendamt – sie alle konnten nicht helfen: Es sei ja niemandem Schaden zugefügt worden; es sei ja nichts geschehen. Am Ende wurde Herr Tiberius erschossen. Es war vielleicht der einzige Ausweg gegen den Terror.

Das klingt wie ein Thriller. So kann man den Roman auch lesen. Er ist aber viel mehr. Er ist eine Innenschau auf einen Mann, der mit der Angst groß geworden ist: mit einer Mutter voll panischer Kriegsangst und einem Vater, dem wohl noch frühe Kriegserfahrungen zusetzten, der stets eine Pistole bei sich trug, der jähzornig war und seine Kinder brutal verprügelte: „Für mich war zu Hause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte“, sagt Randolph im Roman. Randolph hat sich von dieser Angst emanzipiert; er ist ein erfolgreicher Architekt geworden und gehört zum großbürgerlichen Mittelstand. Mit Herrn Tiberius brechen die alten Ängste wieder auf – und die Nähe zum Gedanken an eine Problemlösung per Waffe.

Es gibt keine Sicherheiten. Die Ehe der Tiefenthalers war schon ziemlich kaputt. Die Bedrohung durch Herrn Tiberius stellt sie einigermaßen wieder her, lässt die Familie eng zusammenrücken. Die Gesellschaft dagegen gibt keinerlei Halt. Unsere Demokratie, unsere political correctness schützt den aus prekärem Milieu stammenden Stalker, aber nicht das immer stärker ins Taumeln geratende bürgerliche Leben des Architekten und dessen loyal an das staatliche Gewaltmonopol glaubendes Bewusstsein.

Angst ist ein Krimi, eine zunehmend beklemmende Geschichte, das Psychogramm eines in der Kindheit geschädigten einsamen Mannes (Randolph) und eine Infragestellung unserer gesellschaftspolitischen Überzeugungen und Gewissheiten. Martin Kindervater will außerdem in seiner Inszenierung einen Blick auf den Kitt familiärer Beziehungen werfen und die Frage stellen, ob wir so etwas wie einen externen Feind benötigen, um in der Ehe und der Familie zu einem Zusammenhalt zu finden. Am Ende der Geschichte blicken wir in einen Abgrund, der schaudern lässt: Die Familie lebt wieder in Glück und Harmonie, verdrängt aber ein furchtbares Kapitalverbrechen.

Das müsste in der Vielschichtigkeit der angesprochenen Problemfelder eine tolle Geschichte für das Theater sein. Futter für eine Inszenierung, die mit beklemmenden Bildern arbeitet, die konsequent auf eine Climax zusteuert, auf einen Punkt, an dem sich die Spannung des Zuschauers, aber auch die Verspannungen der Figuren entladen. Dazu müsste sich die Inszenierung allerdings von der Vorlage emanzipieren, die eine Rückschau ist, eine Innenansicht vor allem von Randolphs Befindlichkeiten. Kindervater aber bleibt der Vorlage treu, arbeitet nur mit drei Schauspielern (zzgl. des erwähnten Kurzauftritts des Vaters zu Beginn), wobei er dem eher zart besaiteten Randolph dessen jüngeren Bruder Bruno, den Peter Waros in Rockerjacke als eher lösungsorientiertes und weniger skrupulöses Raubein gibt, als Gegenentwurf zur Seite stellt. Eine vollwertige, gleichberechtigte Figur ist Bruno allerdings nicht geworden; Waros bleibt krass unterbeschäftigt, und wenn er gelegentlich komödiantisch in andere Rollen schlüpft, die verzweifelte Lustigkeit von Randolph und Rebecca in Gesellschaft unterstreichen will, wirkt er eher wie ein Fremdkörper in der Inszenierung.

Die allerdings würde ohne ihn ebenfalls nicht funktionieren. Jürgen Sarkiss, normalerweise einer der stärksten Schauspieler im Oberhausener Ensemble, sowie Elisabeth Kopp als Rebecca erzählen in einer langen, langen Rückblende von ihrem langen, langen Leiden unter Tiberius (und ab und zu an ihrer Ehe), und die Zeit wird uns lang und länger. Denn die beiden bleiben weitgehend im gleichen moderaten Ton; der Wechsel zwischen Erzählung und direkter Rede wirkt häufig unbeholfen, und wenn Sarkiss und Kopp einmal in einem kurzen emotionalen Moment ihre Stimmen erheben, so geschieht dies meist unvermittelt und wenig glaubwürdig. Weder die Schauspieler noch die Inszenierung nutzen irgendwelche Mittel und Theatertricks, um die zunehmend beklemmende Situation zu illustrieren, die zunehmende Drangsalierung der Familie auch atmosphärisch deutlich zu machen. Auch der gesellschaftspolitische Aspekt, der den Autor Kurbjuweit, dessen Familie selbst vor einigen Jahren Opfer eines Stalkers geworden ist, besonders beschäftigt haben muss, droht im Einerlei unterzugehen. Erst der überraschende Schluss erschüttert noch einmal und stimmt nachdenklich. So verlässt man das Theater nach 100 Minuten in dem unbefriedigenden Bewusstsein, eine tolle Geschichte kennengelernt und sich dennoch gelangweilt zu haben.