Übrigens …

Die Nibelungen im Frankfurt/Neuss/Bochum

Viel besungen: Die Nibelungen

Ein Steg verläuft quer durch den Zuschauerraum im Schauspielhaus Bochum, beginnend am noch heruntergelassenen eisernen Vorhang und endend hinter der letzten Reihe des Parketts. Mit einem schwarzen Lamellenvorhang ist der Raum verengt; die seitlichen Sitze sind abgetrennt. Dunkel ist’s, und dem Kenner des Stücks mag es vorkommen, als säße er mit den Burgundern eingesperrt im Saal der Burg von König Etzel und als bräche gleich das Höllenfeuer los. Stattdessen greift Keith O’Brien zur Gitarre, und die Helden von Burgund stimmen das schöne alte Lied an: „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit…“

Es ist Hebbel-Jahr. Der Meister wäre 200 Jahre alt geworden im März dieses Jahres, und so werden sie viel besungen, die Nibelungen. Das Schauspiel Köln macht Judith, und die anderen spielen das große, nach dem Tausendjährigen Reich für eine Weile kontaminiert erscheinende große Epos um den Verrat am Drachentöter und die grausame Rache der schönen Maid Kriemhild. Innerhalb von nur drei Wochen feierten Die Nibelungen Premiere in Frankfurt, Neuss und Bochum. Der Kontamination wirkt man einhellig durch die Besetzung der Siegfried-Figur entgegen: Der blonde, blauäugige arische Held ist ein zu kurz geratener migrantischer Kraftprotz (Neuss), ein zu lang geratener tumber Rabauke in Schlangenhaut (Bochum) oder ein unreifer Parzival aus dem Abenteuerland (Frankfurt). Und nur in Bochum blitzt das Motiv der Nibelungentreue, so wie sie einst die Nationalsozialisten von den Helden in Stalingrad erwarteten, ab und zu kurz auf.


Ein großes Epos in Bochum: Gunther badet gerne lau

Wenn Keith O’Brien zum Auftakt erstmals das Lied von den alten mæren anstimmt, sind wir schon mitten im Stück: Siegfried ist tot, Herr Rüdiger wirbt im Auftrag Etzels um Kriemhild. Was bisher geschah, wird später im Rückblick erzählt. Jetzt aber singen die Burgunder vor dem eisernen Vorhang; wir sitzen da in einer Art Sarg, von fern glauben wir die Klänge eines Trauergottesdienstes zu hören. Schön ist das Lied, das das Ensemble auf mittelhochdeutsch singt, poetisch spricht „Ute“ Lore Stefanek ihren Text. Kriemhild aber redet Klartext. Hochdeutsch. Nicht poetisch, sondern mit harter, lauter Stimme. In grauem Pulli und länger nicht gewaschener Männer-Unterhose, Gesicht und Beine sind schmutzig. Immer wütender wird ihre Rede; die Musik dazu schwillt an, dramatisch, drohend, laut. Jana Schulz, diese schmuddelige herbe Kriemhild, die sich selten wusch mit ihren Tränen, schleppt eine Urne mit sich rum, reibt sich später ein mit Siegfrieds Asche. Nach fünf Minuten haben wir schon mehr Gänsehaut-Feeling als in den gesamten achteinhalb Stunden in Neuss und Frankfurt.

Als sie sich mit der Asche wäscht, hat Kriemhild entschieden, Etzels Heiratsantrag anzunehmen: „Denn Etzels Name steht für Blut und Feuer.“ Hagen von Tronje fürchtet sich vor der Verbindung mit dem Hunnenkönig – er ahnt, was daraus folgt. Diese Furcht ist es, die Kriemhild überzeugt. Die Motive der Handlungen einzelner Personen werden in Bochum viel sinnfälliger – deutlicher, aber nicht platt – herausgearbeitet als in Neuss und Frankfurt. Vontobel gelingt es, die Vielschichtigkeit des Stückes und der einzelnen Charaktere herauszuarbeiten: Hagen zum Beispiel, der faszinierendste Charakter der Nibelungen-Sage, ist bei Werner Wölbern ein untersetzter Pykniker ohne jeden Charme, ein harter, schlecht gelaunter Herbert Wehner. Aber wie dieser ist er nicht nur der mitleidlose, eiskalte Organisator der Macht, sondern auch der gegen alle inneren Widerstände „nibelungentreue“, verantwortungsbewusste Diener seines Staates und der lockere, in die Freizeitgestaltung der Herrscherfamilie einbezogene Privatmann. Florian Lange als Gunther dagegen - der Mann, dem Hagen bis zum Tod in Treue dient – ist ein Herrscher voller innerer Nöte, mit nur vorgespiegeltem Selbstvertrauen. Wir werden noch sehen: Der Herr badet gerne lau.

Erst nach 45 Minuten geht der eiserne Vorhang hoch, und wir blicken in den großen Saal in Etzels Schloss. Zu Trommelwirbel ziehen die Burgunder ein – ihrem formalen Anführer Gunther spürt man Angst und Skepsis an. Selten sahen wir Florian Lange so stark wie an diesem Abend: Auch nonverbal zeichnet er die facettenreiche Charakterstudie des überforderten Königs unter der Knute eines dominanten Vasallen. Frühzeitig zieht er den Schwanz ein, als er Kriemhild und Brunhild bei ihrem Zickenkrieg belauscht, und noch früher hat er erkannt, dass Hagen, gegen den er sich nicht durchsetzen kann, für den Friedliebenden ein Problem darstellt: „Du bis unser Tod.“ - Großartig spielen Werner Wölbern und Heiner Stadelmann auch die kurze Begegnung zwischen dem misstrauischen, Abwehr und Feindseligkeit ausstrahlenden Hagen und dem altersmilden, gutmütigen Markgrafen Rüdiger: Wie so oft an diesem Abend, erzeugt Vontobels Inszenierung nicht nur Spannung durch den effektvollen Einsatz von Licht und Musik, sondern auch ganz unspektakulär durch minimale Gesten und Blicke der Akteure. So etwas können nur große Schauspieler.

Nach 75 Minuten ziehen sich die schwarzgekleideten Burgunder um. In einer Rückblende wird nun vom „Gehörnten Siegfried“ und von „Siegfrieds Tod“ erzählt. Am Hofe der Burgunder herrschen Glück und Unbeschwertheit. Die kleine Kriemhild springt dem guten Onkel Hagen in die Arme; fröhliche Lieder werden gesungen: Jana Schulz, die stärkste Powerfrau des deutschen Theaters, kann auch das kleine Mädel, das verliebte, pubertierende Girlie. Wie ein Traumbild taucht von ganz hinten im Zuschauerraum Brunhilde auf, geht ein paar Schritte den sich quer durchs Parkett ziehenden Steg hinunter und singt mit dunkler, warmer Stimme ein nordisches Lied. Die „nordische Jungfrau, der flüssiges Eisen in den Adern kocht“, ist bei Minna Wündrich eine tolle Frau, zwar stolz, aber nicht arrogant – endlich einmal eine Brunhild, die man lieben kann, deren Wirkung auf harte Männer nachzuvollziehen ist.

Felix Rechs Siegfried hat seine ganzen 192 Zentimeter Körperlänge in einen schwarz-goldenen Anzug gesteckt; Gold trägt er auch auf der Haut, und selbst die Balmung-Klinge ist vergoldet. Siegfried ist letztlich ein Rabauke, ein Drachentöter in Schlangenhaut. Als er Gunther in der Hochzeitsnacht ein zweites Mal aus der Bredouille geholfen hat, kehrt er nackt bis auf die Unterhose aus dem Schlafzimmer zurück – jedoch weder siegesgewiss noch befriedigt, sondern mit wirrem Blick. Siegfried schaut schon ins Grauen. Es ist das einzige Mal, dass er so etwas wie Weitblick, wie emotionale Intelligenz aufblitzen lässt. Seltsam: In Neuss und Bochum fahren die Frauen auf tumbe Muskelkraft ab und in Frankfurt auf niedliche vorpubertäre Angeberei. Irgendwie ist es ja doch beruhigend, dass die meisten Damen des 21. Jahrhunderts bei der Paarung auch auf intellektuelle Augenhöhe achten…    

Doch: Da ist ja noch Brunhild. „Rache, Rache, Rache“, ruft sie, als sie vom an ihr und an der Vorsehung begangenen Betrug erfährt. Brunhilds Rache, die Hagen und seine Bande ausführen. Und Brunhilds Trauer und Empathie: Als Kriemhild nach Blumen ruft (der verstorbene Rabauke soll angeblich hübsche Frühlingsblumen verehrt haben), kommt ganz leise von hinten die Isenländerin und sammelt die vom Hochzeitsfest verbliebenen Blumen ein. „Die letzte Riesin strebt zum letzten Riesen“, hatte Hagen gesagt. Vontobels kraftvolle Inszenierung hat auch solche sensiblen Momente. Wie aber Kriemhild in ihrem Schmerz allein gelassen wird, hat etwas Erbarmungsloses. Es ist die Nibelungentreue, die solche unbarmherzigen und schonungslosen Züge trägt und die stärker als in Neuss und Frankfurt ausgestellt wird: Giselher und Gerenot, die sich geweigert haben, an Siegfrieds Tod mitzuwirken, stehen nun zu Hagen, der das Geschlecht der Burgunder in Not und Tod verteidigt. Und der noch sterbend, in vollem Bewusstsein seiner strategischen, intellektuellen und körperlichen Überlegenheit, seinem Boss Gunther, diesem Herrn, der gern lau badet, im todbringenden Feuer sein Rückgrat als Stuhl anbietet. So mochte es Adolf in Stalingrad – und doch: Hut ab. Standing Ovations.

 

Zwei unterschiedliche Regie-Handschriften in Neuss

Getrieben von dem Wunsch, einmal das gesamte Ensemble in einer einzigen Aufführung zum Einsatz zu bringen, wuchtet das Rheinische Landestheater Neuss mit der fast fünfeinhalb Stunden währenden Doppelveranstaltung die wohl größte Prestigeveranstaltung seiner Geschichte auf die Bühne. Die kompletten „Nibelungen“ an einem Landestheater, das auch Spielstätten in Hückeswagen, Erkelenz und Radevormwald bespielen muss – da war Skepsis angebracht. Allerdings mutet Neuss dem Publikum das Mammutwerk nur im Ausnahmefall an einem Abend zu; meist spielt man Siegfried und Kriemhilds Rache in getrennten Vorstellungen. Siegfried geriet zu einem der stärksten Spielzeit-Auftakte eines Hauses in NRW.  

Bei Siegfried darf insbesondere die jüngere Garde unter den Schauspielern auftreten und eine 36jährige Gastregisseurin inszenieren. Esther Hattenbach bedient die Klaviatur des Theaters mit einer Souveränität und einer traumwandlerischen Sicherheit als hätte sie die Ressourcen einer Spitzenbühne des deutschen Stadttheaters zur Verfügung. Humor und Pathos, Gag und Grusel, Liebesnot und Ehrgepussel, Kriegsgeschrei und Zickenkrieg wechseln einander ab – unterhaltsam, häufig witzig, manches Mal spannend und vor allem stets mit hoher Präzision und einem perfekten Timing: Da ist keine Szene zu lang; geschickt werden unterschiedliche Stimmungen geschaffen, deren Brechung zum exakt richtigen Moment erfolgt. Fürs Atmosphärische ist zu einem beträchtlichen Teil der Musiker, Komponist, Geräuschemacher und Sound-Designer Matthias Mainz verantwortlich, der nicht nur  die Klangkonzeption für Siegfried erarbeitet (sprich: „komponiert“), sondern auch höchstpersönlich die Materialien für seine Instrumente zusammengesammelt hat: riesige Eisenbahnfedern zum Beispiel oder die große Stahlplatte, die die karge, aber eindrucksvolle Bühne von Juan León dominiert: Dräuende Geräusche machen diese Instrumente – sowohl akustisch als auch optisch bilden sie die ideale Begleitung zu diesem rauen Ungetüm von Stück. Zu einer Art düsterer Gothic Music singt Hagen ein Lied vom Lindenblatt – als Theatermusiker ist Matthias Mainz bislang die Entdeckung der Spielzeit in NRW.

Als raue Ungetüme gehen oft ja auch die Burgunder durch. Helden sind sie nicht; die Burgunder sind tumbe Deutsche, und das neue Ensemble-Mitglied Paolo Guaneme Pinilla gibt den Siegfried als südländischen, etwas kurz geratenen Kraftprotz: selbstbewusst, aber unelegant und etwas gehemmt. Die Macho-Männer werfen Steine, um einen Schwertkampf zu vermeiden – das wirkt heute ein bisschen vorpubertär, und entsprechend lustig ist die Mauerschau, in der Ute und Kriemhild eine Reportage von diesem Wettbewerb abliefern. Gunther wirkt bei Henning Strübbe nicht nur überraschend jung, sondern er ist mit seinem Faltenrock über der Hose auch eine etwas weibische Erscheinung, und nicht nur eine isländische Powerfrau wie Brunhilde würde etwas ungläubig gucken und an der Wahl ihres Gatten zweifeln, wenn sie der Schwiegermutter mit einem aufgeregten „Mama, Mama“ vorgestellt würde. – Die Rolle des Hagen, des normalerweise im Hintergrund wirkenden sinisteren Planers, Machers und Strippenziehers, wird von dem brillanten André Felgenhauer ungewöhnlich komödiantisch ausgelegt: Er ist nicht der rationale, intellektuelle Denker, sondern ein junger, schöner, auch mal alberner und kindischer Happy-Go-Lucky, der noch auf der Suche nach seiner Rolle und seiner Position bei der Herrscher-Familie ist.

Dass Siegfried recht orientierungslos von Giselher geführt werden muss, als er bei Kriemhild zur Brautwerbung antritt, ist irgendwie nachvollziehbar: Womit hat der intellektuell etwas minderbemittelte Kerl eigentlich solch ein nettes Mädel verdient? Das gutherzige Kind fährt ab auf die sexuelle Attraktivität von Muskeln eines tumben Kraftprotzes; die süße, schüchterne, kindlich verliebte Kriemhild der Sigrid Dispert weckt selbst beim Zuschauer Beschützerinstinkte. Das spätere wütende Weib traut man ihr eher nicht zu, aber im zweiten Teil werden ja auch fast alle Rollen umbesetzt.

Doch die Rachegöttin gelingt auch Linda Riebau nur in Ansätzen. Das Stück beginnt dreizehn Jahre später, und viele weitere Jahre gehen ins Land, bevor die Burgunder der Einladung von Kriemhild an König Etzels Hof folgen, wo sie dann eindrucksvoll niedergemetzelt werden. Die Burgunder bleiben zwar provozierende Gangster; sie lachen verächtlich angesichts von Etzels stilsicherer Gastfreundschaft wie eine Horde von Halbstarken aus Neukölln. Aber sie sind reifer geworden, ernsthafter, strenger. Konsequenterweise ist auch Bettina Jahnkes Inszenierung strenger, statuarischer, düsterer. Jahnke hat sich bei Kriemhilds Rache für die bewusste Reduktion entschieden. Der Humor, der Esther Hattenbachs Inszenierung so unterhaltsam aufgelockert hatte, ist nahezu völlig gestrichen, und alle szenischen Effekte, die so perfekt gesetzten atmosphärischen Brüche, die den ersten Teil auszeichneten, hat Jahnke unterbunden. Musik gibt es kaum noch; Jahnke verlässt sich ganz auf die Wirkung der Sprache. Zeitweise erleben wir regelrechtes Deklamationstheater. Das Raue, das Abweisende, das Martialische soll so unterstrichen werden.

Vom Konzept her klingt das einleuchtend, aber für ein solches Theater benötigt man nicht nur gute, sondern herausragende Schauspieler: Akteure, die beim bloßen Betreten der Bühne durch ihre Ausstrahlung Wirkung entfalten. Bei den Münchner Kammerspielen geht man mit solchen vorwiegend statuarischen Aufführungen kein Risiko ein – am Rheinischen Landestheater fehlt dem Ensemble für solche Herausforderungen das Potential. So bleibt allenfalls Joachim Berger als Rüdiger von den Schauspielern des zweiten Teils im Gedächtnis. Intellektuell kann der Zuschauer erfassen, was Jahnke wollte: Die Männer, nunmehr ganz in Schwarz gekleidet, wirken nun soldatischer; das Spielerische im Umgang miteinander haben sie abgelegt. Gunther, nunmehr durch Rainer Scharenberg verkörpert, hat an Sicherheit und Überlegenheit gewonnen: Mit Arroganz und Süffisanz, Ironie und näselndem Hochmut demonstriert er seinen Führungsanspruch. Ähnlich ist der Reifungsprozess bei Hagen verlaufen – die Flapsigkeit André Felgenhauers ist nun durch den Zynismus Andreas Spaniols ersetzt. Dennoch bleibt ausgerechnet Hagen im zweiten Teil blass, obwohl Felgenhauer durch seine ungewöhnliche Rolleninterpretation eine großartige Vorlage für eine gewaltige und gewalttätige Entwicklung dieser Figur gegeben hatte.

Wirkung entfaltet Jahnkes Inszenierung, wenn sie doch einmal auf Effekte setzt: Wie in einer japanischen Zen-Zeremonie schminken sich die fünf Burgunder mit nacktem Oberkörper und Pluderhose die Kriegsbemalung auf den Körper – und im Parkett spürt man die drohende Gefahr. Die dunkle, karge, abweisende Wand der kaum veränderten Bühne hat nun einen ca. 2 m großen feuerroten Schein: Sieh hin, und du weißt. Vor dieser roten Kulisse steht Kriemhild, stolz, mit geradem Rücken – sprachlich aber schafft sie es nicht, den Furor und Rachedurst ihrer Figur überzeugend zu vermitteln. Rot ist auch Etzels Rock – Etzel, der im Grunde wider seinen Willen in die Tragödie hineingezogen wird.

Im Showdown nach Hagens Mord an Etzels Kind packt die Inszenierung wieder: Jetzt fährt Etzel die Brücken ein, kappt die Fluchtwege. Wieder wird skandiert, chorisch gesprochen. Man realisiert noch einmal, welches Konzept Bettina Jahnke verfolgte. Doch es berührt kaum.

 

In Frankfurt traut sich Jorinde Dröse zu selten an große Gefühle

 „Es gibt keine Versöhnung. Die Helden stürzen, weil sie sich überheben“, wird Friedrich Hebbel im Programmheft des Schauspiels Frankfurt zitiert. Flinkzähhart sind die Burgunder in Jorinde Dröses Inszenierung: „stark“, „hart“, „schnell“ und „jung“; „mächtig“ und „mutig“. Männer halt. Gunther (Sascha Nathan)  ist ein großer, massiger Machtmensch, Lukas Rüppels Siegfried wirkt gegen ihn wie ein Heranwachsender. Nach dem Sündenfall, als die Burgunder auf Betreiben Hagens Siegfried getötet haben, fällt Gunther allerdings in sich zusammen: Er wirkt plötzlich recht heruntergekommen, optisch und sprachlich mehr und mehr verwahrlost. Siegfrieds Fremdheit ist die des alternativen Öko-Freaks auf dem Wiener Opernball: alle Burgunder stecken in schwarzen Anzügen, aber Rüppel taucht in grobmaschigem Pulli und karierter Hose auf. Er erzählt die Geschichte vom Drachenkampf und seinem Wunderschwert Balmung wie ein Vierzehnjähriger, der gerade mit seinen Kumpanen ein spannendes Abenteuerspiel hinter sich gebracht hat, voll kindlichem Stolz die Geschichte aufbauschend. Kriemhild, die gerade noch geschworen hat, sie werde niemals lieben, trifft es dennoch wie ein Blitz. Und als sie Siegfrieds Namen erraten soll, gibt es eine Nibelungenfassung von Rumpelstilzchen.

Auch Hagen ist mit Nico Holonics sehr jung besetzt, und auch er ist ein Abenteurer. Er hat weniger Skrupel als die übrige zu Beginn der Geschichte noch mit einigermaßen akzeptablen ethisch-moralischen Grundsätzen ausgestattete Burgunder-Sippe und ist spontan Siegfried ab- und der Intrige zugeneigt. Im Fach Komplexitätsmanagement wäre Hagen der Klassenbeste; als einziger denkt er über den nächsten Schritt hinaus und malt sich die möglichen Konsequenzen des Handelns der Burgunder und der Denkstruktur von Kriemhild aus. Nicht ohne eine gewisse aasige Freude an der Erörterung der schlimmstmöglichen Wendung, wie uns scheinen will: Er ist ein zynisches, selbstverliebtes Arschloch, das noch im Angesicht des sicheren Todes mit fiesem Lächeln triumphiert. Auch wenn er Siegfried mit kalter Lakonie und Pistole ins Jenseits befördert (so wie er später selbst erschossen wird!), auch wenn er als originalgetreue Kopie von Karin Beiers Michael Wittenborn weiland in Köln Etzels und Kriemhilds Kind mit einer kurzen Bewegung zu wirkungsvollem Knack-Geräusch den Hals umdreht, macht er uns niemals wirklich Angst: Die Aura des Dämonischen oder auch nur des Bösen, die Werner Wölbern in Bochum umgibt, erreicht Nico Holonics zu keinem Zeitpunkt.

Dafür ist Jorinde Dröses Inszenierung bis zum Schluss immer wieder auch von Humor und Ironie geprägt. Allerdings wirkt der Humor vordergründiger als bei Esther Hattenbach in Neuss, und den atmosphärischen Brüchen fehlen die Trennschärfe und die perfekte Rhythmik, die den ersten Teil der Neusser Nibelungen auszeichnen. Zudem hat die Frankfurter Textfassung zumindest im zweiten Teil Schwächen, als im Gespräch zwischen Etzel und Kriemhild in erklärenden Rückblenden Sachverhalte aus der Vergangenheit geschildert werden, die den Eheleuten längst bekannt sein müssen. Trotz der radikalen Kürzung auf gut drei Stunden stellen sich Längen ein, die wir weder in Bochum noch in der ersten Hälfte des Neusser Doppelabends empfinden (der Neusser Kriemhilds Rache ist die Frankfurter Aufführung allerdings in allen Belangen überlegen). Es sind weniger die großen Linien als vielmehr einzelne Szenen und Bilder, die in Frankfurt überzeugen: Der tolle, geradezu mythische Sternenhimmel über Isenland; die stürmischen Wellen, die als Video über die drei Wände des Guckkastens rollen, als Brunhild sexuell bezwungen wird – da gerät die Erde ins Tosen. Konstanze Becker gibt eine stämmige Brunhild in kurzer Lederhose, ihre Amme Frygga ist eine sexy Bundeswehr-Braut: ein Duo aus Walküre und Emanzenweib.

Überzeugend – und in dieser Interpretation neu – ist auch der Blick auf das Verhältnis der Eheleute Etzel und Kriemhild. Die Burgunderprinzessin ist nicht durchgängig verbiestert und trauerumflort: Sie lebt im Land der Hunnen in einer heilen Familie. Papa und Mama spielen locker und gelöst mit ihrem Sohn, und dann schmusen sie miteinander. Alles Fake, alles Fassade: Als Hagen ihren Sohn tötet, lächelt Kriemhild: Das war exakt, was sie gebraucht hat. Nun muss Etzel ihren Rachefeldzug unterstützen. Und er begreift, dass er nur instrumentalisiert worden ist. Niemals hat Kriemhild Etzel geliebt, einsam, in Frösteln machender Kälte bleibt er zurück. Auch als Familienstück bleiben die Nibelungen grausam.