Der Himmel flammt Fürstentod herab
„Mama, was ist eigentlich Rhetorik?“, fragte der Schreiber dieser Zeilen vor ca. 50 Jahren – ja, damals wurden solche Fragen noch am Mittagstisch erörtert, und die Funktion von Google übernahmen die Eltern. Mutter antwortete: „Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an…“ Sie zitierte die Rede des Marc Anton aus William Shakespeares Julius Caesar, das klassische Schulbeispiel für meisterhafte Rhetorik: die Rede, mit der Marc Anton auf Brutus antwortet, der dem Volk gerade erläutert hat, warum die Ermordung von Caesar unumgänglich gewesen war. Das Volk glaubt Brutus, doch Marc Anton gelingt es, es umzustimmen, ohne Brutus unmittelbar anzugreifen oder bloßzustellen. Mit Kriegs- und sonstigen Listen habe Caesar stets für eine gut gefüllte Staatskasse gesorgt; das Wohlergehen der Bürger lag ihm am Herzen. „Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war, und Brutus ist ein ehrenwerter Mann…“
Brutus und Marc Anton sind in der jüngsten Produktion des ROTTSTR5 Theaters Bochum gestrichen; die Rede kommt dennoch vor. Gehalten von Octavius, dem Neffen Caesars, und wo bei Shakespeare „Brutus“ steht, heißt es nun „Pompeius“: „Pompeius hat euch gesagt, dass er herrschsüchtig war…“. Gedeiht Rom unter Caesars Schutz, wie der Herrscher selbst – nicht völlig zu Unrecht – behauptet, oder erkrankt Rom unter seiner Tyrannei, wie Pompeius argumentiert? Die Ambivalenz des Caesar-Bildes, bei Shakespeare in den Gegenpositionen von Brutus und Marcus Antonius zusammengefasst, steht in Hans Drehers Inszenierung ebenso im Fokus wie die Frage nach dem Primat von innerfamiliärer Loyalität oder Staatsraison. Zudem wirft die Inszenierung immer wieder Angeln aus in unsere Gegenwart, in die von Machtstreben oder auch nur von grenzenlosem Opportunismus geprägten Demokratien unserer Zeit. Eine Art Kabelrolle wird in der ersten langen, stummen Szene hereingerollt und schnell zum Tisch umfunktioniert. Sie ist umwickelt mit einer grün-weiß-roten Flagge, einem Tuch in den Farben der Repubblica Italiana - wahlweise des Landes Nordrhein-Westfalen.
Octavius ist der Großneffe Caesars, den dieser zum Erben und Nachfolger bestimmt hat. Die Gallischen Kriege sind beendet; bluttriefende Horrorgeschichten werden erzählt von der Grausamkeit der Gallier. Der Krieg gegen die Gallier war Politik, und er war wichtig für die Wirtschaft, weiß Octavius. Und doch hält er den Politikstil und die Herrscher-Allüren seines Onkels für nicht mehr tolerabel. Ist ein sanfter Tyrann nicht auch ein Tyrann? Caesar, von den Menschen geliebt, geachtet und für ihresgleichen gehalten („das Wohlergehen der Bürger lag ihm am Herzen“), nutzt seine Untertanen eiskalt als Kanonenfutter; seine Gegner werden gnadenlos ausgeschaltet. Caesar sieht sich als den mächtigen, ja, den übermächtigen Koloss und sein Volks als Zwerge, als Manövriermasse. Und doch: Dictatorship verbindet sich mit Staatsverantwortung: Es müssen eben einige über die Klinge springen, damit es der Masse gut geht. Ist das nicht heute – zumindest im Bereich der Wirtschaft und der Arbeitskräfte – immer noch so? Sicherheit und Freiheit passen nicht zusammen, behauptet Caesar einmal – war da nicht was, gestern in der Tagesschau im Zusammenhang mit Abhörskandalen und Schutz vor terroristischen Netzwerken? Gibt es da nicht die Erfahrungen mit der Arabellion, in der die Befreiung von der Diktatur oft in Chaos und Anarchie endet? „Aus der Kita rufen die Mädchen dreimal Heil“, spottet (und warnt zugleich) die Inszenierung.
Eine etwa behauptete Demokratie jedenfalls ist ein Fake. Im Römischen Reich herrscht Militarismus. Alexander Ritter als Octavius merkt man immer mal wieder an, wie angewidert er von Caesars Herrschaftsmethoden ist. Und doch: Ist Caesar sein Feind? Caesar baut ihn doch auf zum Nachfolger... Ist das Bestechung? Ist es Machtkalkül? Familiäre Bindung (der historische Caesar hatte seinen Großneffen noch im Erwachsenenalter an Sohnes Statt adoptiert)? Während Octavius noch zaudert, dringt Pompeius auf Caesars Tod.
Wir erleben Caesars Träume und Alpträume. „Zur Nacht haben Erde und Himmel Krieg geführt“, heißt es bei Shakespeare und nun auch bei Dreher: „Wildglühende Krieger fochten auf den Wolken … Der Himmel selbst flammt Fürstentod herab.“ Wie das ganz real aussehen kann, bekommen wir eindrucksvoll vorgeführt: Das Inferno des Zeppelins „Hindenburg“, der im Jahre 1937 bei der Landung auf dem Marinestützpunkt Lakehurst in Flammen aufging, illustriert diesen Alptraum; wir sehen verschwommene Bilder des Luftschiffs an den Mauern des Rottstraßen-Gewölbes und hören Einspielungen der Live-Reportage des US-Rundfunks. Im Sprechchor des ROTTSTR5-Jugendclubs „Young’n Rotten“, der die Aufführung unterstützt, gibt es Verletzte, Sirenen der Feuerwehr sind zu hören, Explosionen folgen. Caesars Alptraum ist eine der eindrucksvollsten Szenen der neunzigminütigen Aufführung, Caesars Angst verhilft Maximilian Strestik, dem stärksten der drei Schauspieler, zu seinem überzeugendsten Auftritt. Er steht auf der Bühne, schwitzend vor Angst. Blickt zurück auf seinen Traum, Rom zur ersten glücklichsten, reichsten Stadt der Welt zu machen. Und kann nicht lassen von seiner Hybris: „Ich musste ein Gott werden.“
„Du, Octavius, Verrat?“ – „Ja, Onkel, Verrat.“ – Es sind die Iden des März, und auch wenn Dreher den Brutus gestrichen hat, wird der Tyrann seinem Schicksal nicht entgehen. Ein bisschen rotes Puder, etwas rote Kreide reicht aus, um ihn zu erledigen. „Pompeius hat euch gesagt, dass er herrschsüchtig war…“.
Unmerklich bewegt Octavius nur noch die Lippen, und die Rede kommt vom Band. Doch man höre genau hin: „Pompeius hat euch gesagt, dass er ehrenwert war, und Pompeius ist herrschsüchtig.“ Octavius killt nun auch ihn, den verbliebenen Rivalen, und besteigt den Thron. Als „Caesar“ – Kaiser. „Lang lebe der Imperator!“, ruft der Chor. Intrigen sind überall. Im alten Rom, im neuen Italien – oder auch in NRW. - Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus, heißt es bei Schiller.