Übrigens …

Metropolis im Bonn, Theater

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Metropolis: Legendär ist der monumentale expressionistische Stummfilm, den Fritz Lang nach einem Roman seiner Lebensabschnittsgefährtin Thea von Harbou im Januar 1927 zur Uraufführung brachte. Die futuristische Stadt Metropolis ist ein wahres Megalopolis. Zwischen gigantischen Hochhäusern fliegen Flugzeuge, auf mehreren Etagen durchziehen Straßenzüge die Stadt, die man einige Jahrzehnte später als Stadtautobahnen bezeichnen wird; im Tiefgeschoss verlaufen Eisenbahnen. Die Gesellschaft der Oberstadt lebt in Saus und Braus; Joh Fredersen, Stadtchef und Alleinherrscher, residiert im neuen „Turm Babel“ und sorgt für ihr Wohlergehen. Seinem Sohn Freder aber wird er ein „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ singen: Irgendwo in der Unterstadt, in den Schächten und Stollen unter dem Erdboden hausen die Menschen, die die Stadt antreiben: Arbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen riesige, für die Funktionsfähigkeit und den Reichtum der Stadt unabdingbare Maschinen bedienen.

Freder aber hört nicht. Er steigt Maria nach, der schönen Arbeiterführerin aus der Unterstadt. Und sieht, was er nicht sehen soll und was auch wir angesichts glitzernder Fassaden luxuriöser Hoteltürme und rauschender Fußballpartien in hypermodernen katarischen Stadien im Jahre 2022 verdrängen sollen: Der schöne Schein ist auf den Blutopfern von Sklavenarbeitern gebaut. Freder entdeckt nun sein sozialdemokratisches Herz, kann den turbokapitalistischen Herrn Papa jedoch nicht erweichen, bessere Lebensbedingungen für die Arbeiter zu schaffen. Die planen derweil eine Verschwörung gegen die Oberschicht, die jedoch von Grot, dem Wächter über die Maschinen und die Arbeiterwelt, entdeckt wird. Aber in Marias schönem Körper sitzt auch eine schöne Seele, und sie will einen Krieg zwischen Unter- und Oberschicht verhindern, da dieser unweigerlich zur Zerstörung von Metropolis führen würde. Sie sucht einen „Mittler“ zwischen beiden Welten und scheint ihn in Freder gefunden zu haben. - Die Handlung wird jetzt mächtig kompliziert; es gibt Geheimagenten und manches Mal fehlschlagende Identitätswechsel, es gibt instrumentalisierte Erfinder, die zur Verwirrung der Arbeiter, aber auch der Zuschauer eine Maschinen-Maria als Doppelgängerin schaffen; es gibt einen Nachtklub und Allegorien und wüste Auseinandersetzungen und Intrigen und Verfolgungsjagden – und ein Happyend.

Diesen in seinen Motiven heute noch hochmodernen kapitalismuskritischen, aber versöhnlichen Science Fiction auf eine Theaterbühne bringen zu wollen, erscheint ziemlich verwegen. Solch ein Unterfangen muss die Dimensionen jeder Bühne sprengen. Regisseur Jan-Christoph Gockel und seine Bühnenbildnerin Julia Kurzweg haben jedoch stattdessen die Spielfläche in der frisch renovierten Halle Beuel um ein Drittel verkleinert – mit einer veritablen Mauer im Look der tragenden Außenwände. Dafür fängt die Revolution schon wenige Meter hinter dem geparkten Auto an: Zwei Ölfässer brennen, in der Mitte ein Trümmerfeld aus Bausteinen. Dunkle Gestalten schleichen herum. „Die Maschinen sind lebendig geworden“, steht auf einem Transparent, und an der Längswand des Installationsplatzes: „Dreht die Welt um. Die Zeit ist da. Die Stadt wird untergehen.“ – Darauf genehmigt sich der Oberschichtler erstmal einen Premierensekt. Und begibt sich ins Innere der Metropolen-Stätte.

Um G.R.O.T. zu begegnen. Big Brother hieß bei Fritz Lang nicht Stasi und nicht NSA, sondern Grot und wurde von Schimanskis Papa Heinrich George gespielt. Heute macht man sowas digital: mit Great Robot-Organic Technology (G.R.O.T.). Eine Computerstimme rattert: „Ihr seid die Arbeiter, ich bin die Leitung. “ Und: „Sie haben zu diesem Bereich keine Zutrittsberechtigung.“ Im Maschinensaal wird gelötet und gehämmert und gestempelt und geschrieben: von kahlköpfigen Puppen mit Skelett-Körpern, die sich zuvor von der Decke auf die Schreibtische der Arbeiter hinabsenkten. Zum Rhythmus ratternder Musik wird gearbeitet – ein faszinierendes, expressionistisches Skelettpuppenballett.  

Faszinierende, oft metaphernreiche Bilder werden wir im Laufe der knapp dreistündigen Aufführung immer wieder sehen: Die Rakete „Yoshiwara“ über dem gleichnamigen Nachtklub: Yoshiwara, Freiheit. Die Neurochirurgie hat Einzug gehalten in Metropolis: die Gehirne der Puppen werden aufgebohrt und manipuliert. Eine Schädeldecke wird geöffnet, die Gehirnströme werden zerstört: brutal mit einem Hammer. Ein Arbeiter hat fehlerhaft gearbeitet – wir wissen aus dem Film, dass das fatale Konsequenzen für das Gleichgewicht der ganzen Stadt und für die Sicherheit der Arbeiter hat. Rotwangs Haus: Rotwang, der geniale Erfinder, ist ein Gegner von Fredersens Gigantomanie und wohnt in einem kleinen Haus, das viel älter ist als die Wolkenkratzer der neuen Stadt – das erinnert an die alten Wohnviertel in den chinesischen Megastädten, die in den letzten Jahrzehnten nahezu ausnahmslos zugunsten gesichtsloser Hochhäuser verschwanden. Später baut Rotwang, von Fredersen erpresst, in einer tollen Szene eine Maschinen-Maria, die böse Zwillingsschwester der guten Arbeiter-Fee, und momentweise weiß man gar nicht, wer die echte und wer die falsche Maria ist. Faszinierend sind auch die Kostüme, die Anklänge an Expressionismus und Science Fiction. Immer wieder delektieren wir uns am Soundtrack der Inszenierung.

Doch trotz Soundtrack hat die Aufführung keinen Rhythmus. Wenn man Fritz Langs Stummfilm nicht sehr genau kennt, verliert man immer mal wieder den Zusammenhang. Bilder und Ideen werden über uns ausgekippt wie die Fotos von der letzten Sommerreise, wenn sie gerade vom Entwickeln kommen: ein wenig ungeordnet, und vor allem zu wenig fokussiert: An manchen Tagen haben wir einfach zu viele Fotos geschossen; so dürfen sie nicht ins Album. Gockels Album aber ist noch nicht fertig – da liegt noch das gesamte Material und wartet auf eine konsumentenfreundliche Aufbereitung. Das ist schade, denn das ermüdet und kostet Konzentration, die wir für die vielen interessanten Szenen und Sätze der Aufführung brauchten. Denn auch wenn das Stück (letztlich wie der Film) in seiner Aussage etwas grobschlächtig kolportagehaft daherkommt, steckt es voller politischer Brisanz, die auch heute noch aktuell ist: Dem „Menschenmaterial“ könne er nicht helfen, sagt Oberkapitalist Joh zu seinem Sohn, aber „ich will einen einsetzen, der vier andere ersetzen kann.“ Die lästigen Staus und Schlangen vor den Geschäften werden dank digitaler Vernetzung durch entsprechende Steuerung der Verkehrsströme und des Einkaufsverhaltens vermieden – natürlich geht das nur auf Kosten der Privatsphäre. Freiheit und freier Wille versus wirtschaftlicher und politischer Effizienz  werden verhandelt. Ein Leitmotiv der Aufführung erinnert an Fukushima. „Der Erfindungsgeist des Menschen kennt keine Utopie. Nur ein Noch-Nicht.“ Diesen Satz hören oder lesen wir mehrfach. Alles, was technisch möglich ist, wird in der Zukunft einmal umgesetzt. Nach der nach menschlichem Ermessen völlig unwahrscheinlichen Fukushima-Katastrophe hatte es geheißen: Alles, was passieren kann, passiert auch irgendwann. Man weiß nur nicht, ob morgen oder in einer Million Jahren.

Im Film, wie gesagt, gibt es ein Happyend wie 2013 in Deutschland: Man meint, irgendein rechtskonservativer CSU-Ortsverband schließe gerade eine große Koalition mit dem SPD-Ortsverein Bochum-Hamme und beide säßen zufrieden an Muttis Küchentisch. Im Schauspiel Bonn endet die Aufführung, wo sie begann: draußen. Ganz hinten geht das große Garagentor der Halle Beuel auf. Im Scheinwerferlicht lockt nach all diesen so coolen wie kühlen Science Fiction Kostümen endlich die Natur: ein wunderschöner grüner Baum. „Come with me / into the trees / we’ll lay on in the grass“, schmeichelt Depeche Mode. “Metropolis / has nothing on this.“ Die Menschen, Ober- wie Unterschicht, gehen in die Knie, hüpfen herum wie die Steinzeitmenschen. Soll das Optimismus sein? Back to the roots? Das Ende wirkt etwas seltsam – Jan-Christoph Gockel meinte das sicher anders, aber vielleicht kommen wir da ja hin, wenn wir eines Tages nach den Rezepten radikaler Wachstumskritiker leben: Dann degenerieren wir wieder zum Primaten.