Schlachtenlenker mit Goldkettchen
Das Stück hat Wucht. So selbstbewusst und starrsinnig die beiden Hauptfiguren auch sein mögen, so überraschend sind doch immer wieder die Haken, die das Stück schlägt – vor allem im Hinblick auf die Motivationslage der Titelfigur. Friedrich Hebbel variiert in seinem 1840 uraufgeführten Erstlingswerk den Plot der Geschichte von Judith und Holofernes aus den Apokryphen des Alten Testaments und bereichert ihn um die eine oder andere psychologische (oder auch nur: triebgesteuerte) Wendung. Holofernes, grausamer Feldherr des Königs Nebukadnezar von Assyrien, belagert die ebräische Stadt Bethulien. Er gräbt den Einwohnern im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser ab, so dass ihnen nur zwei Alternativen bleiben: zu verdursten oder sich zu ergeben. Da man den Blutdurst des Holofernes kennt, müsste eigentlich beides auf dasselbe herauskommen: Hier kommt keiner lebend raus.
Die Ebräer aber sind „ein Volk von Wahnsinnigen“. Weil sie sich, wie der Moabiter-Hauptmann Achior warnt, anders als die meisten sich Holofernes kampflos ergebenden Völker „noch zu widersetzen wagen – und … weil sie einen Gott anbeten, den man nicht sehen kann.“ In Bethulien lebt Judith, eine junge Witwe von hinreißender Schönheit und so religiös, dass der Glaube sie in die Isolation treibt. Sie ist aufgrund der Impotenz ihres gewesenen Gatten noch jungfräulich. Judith beschließt, sich aufzuopfern für ihr Volk und ihren Gott, und sie wandert freiwillig ins Lager des Holofernes: ins Feldlager und ins Matratzenlager. Sie schläft mit dem testosterongesteuerten Schürzenjäger (er „liebt die Weiber. Aber so wie Essen und Trinken“) und enthauptet ihn anschließend. Irgendwie kennen wir das aus der Zoologie: Da gibt es eine Heuschrecke, die es liebt, ihrem Sexualpartner den Kopf abzubeißen. Ihr Name: Gottesanbeterin!
Judith findet den Mut zu Konfrontation und Beischlaf mit dem grausamen Feldherrn, weil sie beweisen will, dass ihr unsichtbarer Gott der Stärkere (und der einzig Wahre) und dessen auserwähltes Volk nicht unterzukriegen ist. Sie will das Volk retten. Soweit zumindest die Theorie. Praktisch ist das alles vergessen, als Judith dem Holofernes gegenübersteht. Die schöne Frau, die ihr Leben lang darunter gelitten hat, dass ihr Mann keine Kinder zeugen konnte, ist hingerissen von der Kraft und der Herrlichkeit und der Virilität des Holofernes. Ganz ohne Lustempfinden dürfte der Sex mit dem Feldherrn nicht vonstatten gegangen sein. Doch die Hybris des Holofernes, der sich Gott gleichgestellt sieht, stößt Judith wieder ab, und sie besinnt sich ihres Vorhabens. Mit dem Feldherrnkopf unterm Arm kehrt sie zurück nach Bethulien. Nur der Kinderwunsch hat sich jetzt zum Alptraum verkehrt.
Von all diesem Hin und Her, der Ambivalenz zwischen profanem Geschlechtstrieb und hehrer Religiosität, zwischen altruistischer Aufopferung für das Volk und verbotener Faszination für das Böse ist in Christina Paulhofers Inszenierung am Schauspiel Köln nicht viel zu sehen. Oder sagen wir: Man sieht es, wenn man es weiß. Aber es ist gut versteckt. Eine winzige Szene zeigt die kurze emotionale Überwältigung der Judith: Sie schwingt schon den Dolch, umkreist damit den Hals des Feldherrn – und schmiegt ihren Körper dann doch mit erotischer Lust an den durchtrainierten, goldkettchenbehängten Body des Holofernes. Warum der bei Robert Dölle mit tänzelndem Schritt, enger Lederhose und meist nacktem Oberkörper wie ein Schwulen-Macho daherkommt, bleibt unerfindlich und entbehrt jeder Logik – vielleicht sollen Dölles Posen eher an den großen Staatenlenker Putin erinnern, wenn er knackig nackig im Gebirgsbach Lachse angelt.
„Mensch, entsetzlicher, du drängst dich zwischen mich und meinen Gott“, fällt Judith noch rechtzeitig ein, bevor sie dem Skrupellosen endgültig verfällt. Die Religiosität spielt in Paulhofers Inszenierung – wie schon bei Hebbel – nicht die vorrangige Rolle. Immerhin findet Paulhofer überzeugende Bilder dafür: Bereits beim Einlass des Publikums tobt der Schauspieler Mohamed Achour über die Bühne, ein Priester im Lager des Holofernes, und schreit beschwörende Texte über seinen Gott heraus wie ein religiöser Eiferer sonntags an Hyde Park Corner – in englischer Sprache: wir erleben das Stück schließlich aus der Perspektive der Judith, und der Priester gehört zu den anderen, den Fremden. Judith wiederum wird später Zwiesprache mit ihrem Gott halten, der ja auch der unsere und der Hebbels ist: ganz ruhig, ganz konzentriert innerhalb eines Kerzenkreises am linken Bühnenrand – da werden Kontemplation und Besinnlichkeit eines jüdischen oder christlichen Gottesdienstes dem barbarischen Gehabe der Assyrer entgegengesetzt.
Das Problem ist: Diese schöne und intensive Szene ist von den Plätzen auf der rechten Seite des Auditoriums kaum zu sehen. Dass die Kölner Judith misslingt, ist nur zu einem geringen Teil der Regie und wohl gar nicht den Schauspielern anzulasten. Letztlich scheitert sie wieder einmal – wie schon zuvor Bachmanns Streik, Sanchez‘ Nackter Wahnsinn und (in geringerem Maße) Bachmanns Genesis an den gigantischen Ausmaßen der Ausweichspielstätte des Kölner Schauspiels im Depot 1. Wie schon bei Genesis und beim Streik versucht das Leitungs-Team dem durch eine großartige Bühneninstallation entgegenzuwirken. Hier ist es ein riesiger grauer Beton-Quader, auf dem oben die Welt des Unterdrückers Holofernes liegt und vor dem unten im Sand die darbenden Einwohner der unterdrückten Stadt vegetieren. Der Quader ist hohl und unten bis zur Hüfthöhe offen: Da fällt schon mal der Because Chor, dessen Mitglieder die Bürger von Bethulien darstellen, heraus, ausgeschüttet, hilflos dem grausamen Herrn oben auf dem Block ausgeliefert; in ihrem ersten Auftritt läuft Judith gebückt unter dem niedrigen Vorsprung, von der Konstruktion am aufrechten Gang gehindert – das erinnert an die von der Macht der Verhältnisse niedergedrückten Menschen in Michael Thalheimers Ratten-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin.
Robert Dölle als Holofernes ist der einzige, der sich gegen diese Halle und das überzeugende, aber ebenfalls gigantische Bühnenbild behaupten kann. Seine Sprache, seine Stimmmodulation, seine Sprechtechnik sind kraftvoll, trotz seines ein wenig unglücklichen Outfits entwickelt er das Charisma der Macht. Alle anderen Akteure wirken wie Zwerge in der großen Halle. Sie müssen rennen, weite Wege zurücklegen – und dennoch wirkt die Aufführung in vielen Szenen wie statisches Deklamationstheater. Weder Julischka Eichel als Judith (eher schon ihre groß gewachsene, schöne Magd Mirza, die von Julia Riedler gespielt wird) noch die vielen Nebenfiguren können sich gegen den Riesen-Raum durchsetzen – da muss man schon LKWs kreisen lassen oder Schienen verlegen wie im „Streik“ oder gleich die Wiener Felsenreitschule auflaufen lassen.
Natürlich hat die Regie auch das erkannt: Immer wieder lässt sie die Gesichter der Akteure in Großaufnahme auf die graue Wand des Podests projizieren. Heiner Stadelmann, einer der großen alten Männer des NRW-Theaters, entwickelt dadurch Kraft und Ausstrahlung: Sein Gesicht, das Gesicht des Dorfältesten Samuel, wird geradezu zu einer Ikone – und er selbst zum weisen, melancholischen Medizinmann eines moralisch überlegenen Volkes. Stadelmann aber – auch das ist auffallend – macht die ganze Rennerei durch die große Halle nicht mit: Wenn er sich bewegt, dann schreitet er: ruhig, nachdenklich, mit der unerschütterlichen Gelassenheit des Alters. Es hebt ihn heraus aus dem wuselnd statischen Ensemble.
Es hilft, wie so oft, auch die Musik: Wenn sie überhaupt zum Einsatz kommt, ist sie meist auf ein fast unhörbares Niveau heruntergedimmt. Doch dann, im entscheidenden Moment, fährt sie hoch, hämmernd, laut. Oben tanzen Judith und Holofernes, und ihr Tanz wird zum Kampf. Unten die Magd, zitternd, ekstatisch sich gegen die Wand werfend; zu ihr gesellt sich der Diener des Holofernes. Selbst der im schwarzen Rückraum in schwarzes Tuch verhüllte Gefangene beginnt sich zu regen. Oben, wir ahnen es, wird gerade der Feind enthauptet. Na also: Geht doch. Wir werden wieder wach – wenigstens die Musik hat sich gegen die Halle durchgesetzt.