Nero im Bochum Theater Rottstraße 5

Nero: bedenkenlos, doch nicht gedankenlos

Die kleinen Programmzettel, die das ROTTSTR 5 Theater in Bochum verteilt und die man so leicht verliert, fassen nicht viel Text. Aber den sollte man lesen: Dann kann man sich die Inhaltsangabe sparen – und manchmal auch die Interpretation: „Rom ist Irrsinn. Wie ein Geschwür wächst es, und die Keimzelle des Wahns sitzt auf einem bröckelnden Thron“, heißt es da zum 4. Teil der „TraumaStadt Rom“ Trilogie (ja, diese Trilogie hat vier Teile: das Haus bezeichnet Kassandra [siehe hier] als Prolog zum Rom-Zyklus). Nero ist es, der nun auf dem Thron sitzt, der Mann, von dem man sagt, er sei ein bedenkenloser Brutalo und Psychopath gewesen und er habe mutwillig die Stadt in Brand setzen lassen. Ein Brandstifter war er mit Worten und mit Taten: Denise Rech, die in einem furiosen 90minütigen Solo den ungeheuer anspruchsvollen Text schultert, zündelt jedenfalls heftig, und einmal muss die Assistentin während der Premiere eingreifen und löschen. Ein Brutalo war er wohl auch. Wahrscheinlich ein bedenkenloser, aber, so legt die Inszenierung nahe, wohl kaum ein gedankenloser.

Nero selbst sah sich als Künstler. „Ein Imperium der Kunst“ wollte er errichten; „Musen sollten die Welt regieren, nicht Mars“, heißt es in Pedro Gálvez‘ Roman Ich, Kaiser Nero, den die Aufführung ausführlich zitiert. „Ich wollte die Menschen um die Schönheit vereinen“, sagt der Kaiser. Nun, von der Faszination und Schönheit brennender Städte können wir uns schaudernd in manchem Cinemascope-Film überzeugen. Zerstörungswut ist bei Nero gepaart mit Größenwahn – und mit dem Willen, auf den Trümmern das Schöne, das Unübertreffliche zu schaffen. Es wäre wohl eine faschistoide Kunst geworden: Wenn Nero, der Liebhaber der Architektur, an der Rottstraße von seinen Visionen zum Aufbau der Stadt Neropolis auf den Trümmern des abgebrannten Roms erzählt, stehen die Entwürfe von Hitlers Welthauptstadt Germania vor unserem geistigen Auge. „Kultur und Kunst … nicht Warenhäuser und Fabriken“ fordert Nero; „das Ordinäre und das Begrenzte“ widern ihn an.

Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode: Um das Beste zu schaffen, muss das Gute in Brand gesteckt werden: „Hunderte Dächer brennen wie Zunder. Das ist mein Epos.“ Nero geht über Leichen. Seine überehrgeizige Mutter Agrippina, die alles tat, um des umstrittenen Neros Macht zu sichern, dann aber selbst nicht von der Macht lassen konnte, hat er in der Bochumer Fassung mit einer Homer-Büste „exekutiert“. Die Macht will Nero für sich allein: „Geteilte Macht ist gemeinsame Sklaverei“ – Oliver Paolo Thomas‘ Textfassung steckt voller solcher erschreckender Merksätze, in denen verdammt viel Wahrheit zu stecken scheint und die doch unserer demokratischen Grundhaltung diametral widersprechen. Dieser Nero ist nicht dumm, er ist nicht unreflektiert – er steckt nur voller Hybris. Die eigene Brutalität, die Erbarmungslosigkeit von „Brot und Spielen“ kennt er durchaus: Doch „Der Pöbel soll das Vergnügen der Gladiatorenkämpfe haben“ – Hauptsache, er fängt nicht an zu denken: „Wie kurz wäre das Leben der Herrschenden, wenn ihre Untertanen beginnen zu denken!“ Und: „Der Pöbel will nie Gerechtigkeit, er will Rache und Opfer.“ Da denken wir ganz aktuell an unsere heutige Neid-Debatte, an den Stammtisch des 21. Jahrhunderts, dessen Urteile über Politiker und Wirtschaftskapitäne meist weder von Sachkenntnis noch von Ausgewogenheit getrübt sind, sondern ausschließlich aus kleingeistiger Gesinnung stammendem Hass und Neid entspringen. Was aber wäre, wenn es dieses kleingeistige Korrektiv nicht gäbe?   

Zweimal während der Aufführung steigt Denise Rech auf ein Podest am hinteren rechten Rand des Bühnenraums – eine Säulenheilige, die sich zur antiken Statue stilisiert, zum die Epochen überdauernden Denkmal. Einmal auch steigt sie auf die Querbalken eines großen, schiefen christlichen Kreuzes, das das zentrale Element des Bühnenbildes darstellt. Wie angekettet wirkt Nero dort. Der Kaiser der Christenverfolgung war gewarnt worden vor den Folgen seines Tuns, das sein Ansehen in der Geschichte beschädigen werde. Selbstüberschätzung auch hier: „Wenn ich mit den Christen fertig bin, wird die Geschichte bezweifeln, dass sie je existiert haben.“

Doch der Wahnsinnige sitzt auf einem bröckelnden Thron. In der Geschichte ist Neros Bild von seinen Untaten und seinem Wahnsinn geprägt. Oliver Paolo Thomas zeigt auf, dass seine Persönlichkeit vielschichtiger war als unser tradiertes Bild vermuten lässt. Dem Regisseur ist ein bemerkenswerter Text gelungen, den die androgyne Denise Rech bravourös bewältigt – ihre ungeheure Gedächtnisleistung ist angesichts des hochkomplexen Sprachkunstwerks nur als phänomenal zu bezeichnen. Insofern steht Thomas‘ Nero in der Tradition großer Rottststraßen-Inszenierungen wie etwa Charlene Markows Kassandra oder Hans Drehers Der Großinquisitor, die ebenfalls hochkomplexe philosophische Fragestellungen verhandeln. Bei Markow aber gibt es einerseits die Priesterin und andererseits die ihr Leben reflektierende Privatperson Kassandra, die sich teilweise antagonistisch zueinander verhalten; Drehers Großinquisitor bezieht seine Spannung aus der Gegenüberstellung der blasphemischen Haltung des offiziellen Vertreters der katholischen Kirche und der Duldsamkeit des ihm begegnenden Jesus Christus. Auch Nero diskutiert seine provokanten, an den Wahnsinn grenzenden Ideen in einem langen inneren Monolog mit einem Gegenüber: mit dem Dichter und Philosophen Seneca, der Nero „Lehrer, Mentor, Vater“ war und in hohem Alter von seinem Schüler, Mentee und Sohn zum Selbstmord gezwungen wurde. Auch Nero versucht, seine Brutalität in seinem späteren Bild in der Geschichte zu spiegeln. Aber die Inszenierung entwickelt nicht die dramatische Kraft, die die Auseinandersetzungen mit dem eigenen Selbst bei Kassandra oder beim Großinquisitor erreichen. Schon das lange Referieren von Neros Lebenslauf zu Beginn ermüdet ein wenig, und trotz des einen oder anderen Feuerchens auf der Bühne fehlt „mehr Theater“ im Theater. Ein wenig erinnert der Abend an ein Fußballspiel zweier herausragender Mannschaften, die sich mit högschder Disziplin und taktischem Geschick so neutralisieren, dass keine Torszenen entstehen. Die Trainer freuen sich dann; der Zuschauer will mehr Spektakel.

Die gesamte TraumaStadt Rom Trilogie bei theater:pur:

Kassandra (siehe hier)

Caligula (siehe hier)

Cäsar (siehe hier)