Brecht ist out – und wird sympathisch
Das Scheusal hat Talent, pflegte Thomas Mann zu sagen, wenn er mit stiff underlip auf den Möchtegern-Proletarier Bertolt Brecht hinabblickte. Dass das Talent ein Scheusal ist, haben auch viele Frauen schmerzlich erfahren müssen. Wo Brecht drauf steht, so glaubt man heute, ist keineswegs immer nur Bertolt Brecht drin: Viele seiner Bühnen-Hits und sonstigen Texte stammen wohl in wesentlichen Teilen von seinen diversen Geliebten und Ehefrauen – die Frau schrieb mit, der Mann kam aufs Etikett. Und dass der kleine Bertolt auch sexuell kein Kostverächter war, ist stärker verbreitetes Allgemeinwissen als der Inhalt seiner Dramentexte. „Ein erotisch-künstlerisches Förderprogramm“ nannte Tilman Krause Brechts Verhalten einmal in der WELT, als er die intellektuelle Augenhöhe herausstreicht, die der Dichter seinen Gehilfinnen und Gespielinnen entgegen weit verbreitetem damaligem Zeitgeist gewährte.
Am Theater Oberhausen liegt der alte Bertolt gleich mit allen weiblichen Mitgliedern des Ensembles im Bett. Mit Susanne Burkhard, mit Angela Falkenhan, mit Tine Hagemann, mit Suse Wächter und mit der alten Frau Torsten Bauer. Brecht stellt sie uns alle namentlich vor – aber ein Stück spielen wollen die Oberhausener Damen nicht mit ihm, allenfalls ein Lied singen. Der alte freundliche Herr, im Jahre 1898 in Augsburg geboren, wirkt noch höchst lebendig, wenn auch der Augsburger Puppenkiste entsprungen. Suse Wächter, vielleicht die derzeit genialste Puppenspielerin im deutschsprachigen Erwachsenentheater, führt ihn fast unmerklich durchs Leben – Schiebermütze, breite Nase, verschmitzter Blick durch die Brecht-Brille aus der Fielmann-Kinderkollektion: da schmust unverkennbar der alte Polit-Gauner vom Berliner Ensemble mit dem heutigen Team aus Oberhausen. Dass er schmust mit den Damen, sei ihm verziehen: Er dürfte ein wenig Zuwendung bitter nötig haben, denn so ganz versteht Brecht unsere Welt nicht mehr: Angela Falkenhan erklärt dem alten Herrn das Internet, wie man skypt oder seine Mails checkt, und wenn Tine Hagemann mit ihm am Computer Autorennen fährt, kommt Brecht ganz fürchterlich ins Schleudern. Rauchen darf er im Theater heute auch nicht mehr: „Es gibt aber Elektrozigaretten…“ – Und nicht einmal über die Rechte an seinen eigenen Werken kann er mehr verfügen: Da sitzt seine Tochter drauf und schickt ihre Rechtsanwälte aus…
Im Gegenzug aber verstehen auch wir die Welt von Brecht kaum mehr: Gleich zu Beginn unterzieht der alte Meister das Ensemble in einer Art Universitätsseminar einer Prüfung über Theorie und Praxis von Epischem Theater und Verfremdungseffekt: Keine Empathie mit den Figuren zulassen, jede Art der Einfühlung muss bekämpft werden: „Es heißt doch Schauspielen und nicht Schaufühlen“, doziert Brecht. Die Oberhausener Schaufühler und –spieler verstehen das alles recht gut und antworten wie Schüler, die ihren Stoff auswendig gelernt haben. Sie visualisieren den Stoff prächtig und mit tollen modernen Piktogrammen – und wollen skypen. Voller Mitleid stellt der Zuschauer fest, wie sehr Brecht out ist. Der Alte ist nurmehr Geschichte.
Er nimmt es mit ungeheurer Geduld und einer Art progressiver Altersgüte hin. Versucht zu verstehen, zu vergleichen, seine alte Welt wiederzuerkennen und ins Heute zu retten: Im Weltraum trifft er Nietzsche, den aus einer poppigen Horrorfilm-Persiflage entsprungenen Dichter und Philosophen. Brecht in 2013, Nietzsche im 21. Jahrhundert: „Ja, die ewige Wiederkehr des Gleichen“, meint Brecht: „Mir kommt vor, als hätte ich das alles schon einmal erlebt.“ Nur: „Nach uns wird nichts kommen – jedenfalls nichts Nennenswertes“, glaubt er in unerschütterlicher Egozentrik. Im Weltenraum nichts Neues: Schauen wir uns die Dia-Show über „Renaissance und Fußball“ an: All die verschiedenen Gesten und Posen des früheren Bayern-Profis Luca Toni finden sich originalgetreu bereits auf berühmten Renaissance-Gemälden. - Einer zumindest imponiert dem alten Brecht denn doch in unserer heutigen Welt. Der wohnt nicht weit entfernt vom Theater Oberhausen, im nahen Mülheim. Helge Schneider wird per Skype zugeschaltet, und nach einem kurzen Gespräch befindet Brecht: „Der Mann ist super, der gefällt mir.“
Helge Schneider, Nietzsche, Captain Spock, Laotse oder Luca Toni – was für ein Kosmos, durch den uns Suse Wächter mit ihrem Puppen-Brecht führt. Nur Elfriede Jelinek, gerüchteweise die genialste unter Wächters Puppenerfindungen, ist zwar im Programmheft angekündigt, aber sie fehlt an diesem Abend. Irgendwie klar: Sie tritt ja nicht mehr öffentlich auf. Wir können es verschmerzen: Wir haben große Freude an einer wunderbar versponnenen Collage aus Pop und Trash, aus Reflektionen über das Theater und Wutreden auf dessen heutige wirtschaftliche Situation, aus Albernheiten, genialen Vergleichen und grotesk konstruierten Zusammenhängen. Dabei ist das Ganze alles andere als platte Comedy, es ist auch alles andere als zwerchfellerschütternd: Uns erfasst dieselbe Gelassenheit, die auch der alte und manchmal überforderte Freund Bertolt an diesem Abend an den Tag legt, und finden das alte Scheusal hochsympathisch.