Finsterer Strippenzieher
Er hat sie geküsst. Ehrenwort: Im neunten Othello, den der Rezensent sah, seit Ulrich Wildgruber die gemeuchelte halbnackte Eva Mattes 1976 über die Wäscheleine hängte, hat Cassio endlich die Desdemona geküsst. Jagos schäbiger Taschentuch-Trick hin, Cassios Treue und Naivität her – war da vielleicht doch was zwischen Cassio und der frisch vermählten Generalsgattin?
Natürlich nicht, denn Cassios Kuss am Schauspielhaus Bochum hat etwas Slapstickartiges, und er trifft eine überraschte, mit nachsichtigem Spott auf den Leutnant blickende Desdemona. Aber immerhin: Mit Shakespeares Othello aus dem Jahre 1604 und René Descartes Meditationen aus dem Jahre 1628 rücken gleich zwei zentrale Texte des frühen 17. Jahrhunderts den radikalen Zweifel in den Vordergrund, schreibt die Dramaturgin Sabine Reich im Programmheft zu David Böschs Aufführung. Jago erreicht, dass Othello seinen Augen nicht mehr traut. Und wenn unsere Augen uns täuschen, kann nur unser Verstand Erkenntnis sichern, sagt Descartes. Othello hat den Kuss nicht gesehen, aber Jago ist in dieser Aufführung irgendwie omnipräsent – der Schurke lauert überall. Und der hat Verstand.
Bei Othello scheint der Verstand allerdings ausgesetzt zu haben, wenn er wirklich annimmt, dass seine attraktive und grundehrliche Desdemona ein Krösken mit diesem Cassio angefangen haben könnte. Schreibtischtäter, Buchhalter, Erbsenzähler sei der, hatte der auf Cassio eifersüchtige Intrigant Jago zu Beginn gesagt; „Günstlingswirtschaft statt Kampferfahrung“ habe zu dessen Beförderung zum Leutnant geführt. Schlimmer noch: Bei Florian Lange ist dieser Cassio die großartig gespielte Karikatur eines Überforderten – Militaristisches ist ihm so fremd wie Jago Empathie und Mitleid. Dass es diesem Waschlappen um „Reputation“ geht, wie er später insistieren wird, ist der Hohn auf Socken. Dieser Cassio ist nichts als ein aufgeregtes Huhn, unbeholfen und – trotz geraubten Desdemona-Kusses – irgendwie auch ein bisschen schwul.
„Der Mensch muss, was er vorgibt, sein“, sagt Othello einmal. Cassio gibt nichts vor – er ist wie er ist. Desdemona ist bei der anrührend zarten Friederike Becht geradezu der Inbegriff des reinen Mädchens. Othello schöpft gegen beide Verdacht. Jago gibt vor, was er nicht ist, und das merkt Othello nicht. Es ist so eine Sache mit dem Verstand, der Erkenntnis bringt, und den Augen, die uns täuschen. - Was Realität ist und was Täuschung – damit spielen auch ein paar der schönen Bilder, die David Bösch für seine Inszenierung gefunden hat: redende Taschentücher zum Beispiel, in einer Szene kurz vor der Pause. Wir dachten, so etwas gäbe es nur bei Botho Strauß, aber Bösch ironisiert damit diese unsägliche Schnupftuch-Story in diesem so spannenden und vielschichtigen Drama – wenn es stundenlang um dieses elende verlorene Taschentuch geht, dann knirscht es meistens im Getriebe der „Othello“-Inszenierungen, aber bei Bösch wirkt es nicht störend. Das Blut, das – sei es real auf der Bühne, sei es bedeutungsschwer im Video - in die Taschentücher tropft und rot ist wie die Erdbeer-Stickerei, ist einerseits eine Metapher, andererseits aber auch ein Spiel mit Realität und Täuschung, zwischen wachem Verstand und düsterem Alptraum. Und traumartig wirkt die stumme Choreographie unmittelbar nach der Pause, wenn Jago und Cassio zu Elvis Presley einen melancholischen, aber von Jago wohl eher hinterlistig gemeinten Tanz ums rot befleckte Taschentuch drehen: „Wise men say only fools rush in…“
Repräsentiert der leicht schwule Cassio-Clown des in Bochum immer besser werdenden Florian Lange anders als im Original-Text auf fast schon denunziatorische Weise eine Minderheit, ist beim Mohren von Venedig von Minderheit keine Rede. Der rassistische Aspekt des Dramas interessiert Bösch nicht: Schwarz ist hier nicht Othello, sondern allenfalls das Bühnenbild, eine malerisch verfallene Industriehalle mit Sprung in der Schüssel und Loch im Dach. Othello ist einer von uns, ein White Anglo-Saxon Protestant. Aber wenn der nicht an Depressionen leidet, dann verzichten wir ab sofort auf laienhafte Diagnosen. Matthias Redlhammer gibt den Feldherrn temperamentlos, sachlich bieder und mit angezogener Handbremse – selbst seine Ausraster wirken noch merkwürdig zurückgenommen und irgendwie nicht authentisch. Wenn Emilia von dem „übermäßigen Zorn“ des Othello berichtet, wundern wir uns – so schlimm war der Kerl gar nicht. Böschs/Redlhammers Konzept bei der Gestaltung der Rolle des Titelhelden geht nicht auf: So defensiv, so zurückgenommen wird Redlhammer zur Schwachstelle der Inszenierung.
Was schade ist: Schließlich heißt die Tragödie „Othello“. Bei Bösch, den lange Zeit vor allem die Liebesgeschichte interessiert, heißt sie eigentlich „Othello und Desdemona“, wie er auf einer Art Film-Intro zu Beginn auf den eisernen Vorhang schreiben lässt. Beim Zuschauer dagegen heißt sie „Jago“. Denn der grandiose Felix Rech als Othellos Gegenspieler ist die zentrale Figur dieses Abends – nicht nur, weil er fast permanent auf der Bühne steht. Von Beginn an ist er ein Gruseln machender verschlagener Bösewicht. Hat es zunächst noch den Anschein, als sei Jagos Fundamentalopposition gegen Othello in enttäuschten Karriere-Erwartungen begründet, so berauscht er sich bald an den Mechanismen seines sinisteren Spiels, am finsteren Strippenziehen. Dem antriebslosen, depressiven Othello ist er intellektuell überlegen, und die Knallchargen Cassio und Rodrigo steckt er eh in die Tasche. Zynisch steigert er sich in eine nahezu nihilistische Inszenierung von Intrige und …: Brutalität. Denn die Aufführung, die lange Zeit trotz typischer romantischer Bösch-Bilder und feiner Ironie ebenso zurückgenommen wirkte wie der Titelheld, nimmt in den letzten 20 Minuten Fahrt auf. Unerbittlich steuert sie auf den spannenden Showdown zu. Plötzlich ist High Noon im Bochumer Schauspielhaus, und „Othello“ wird zu einem Western. Natürlich: Der General erdrosselt Desdemona. Doch die zuckt noch. Da zückt Jago den Colt und schießt. Nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und erschießt Emilia, seine hochschwangere Frau, die die Intrige zu enthüllen drohte. Schießt das ganze Magazin leer. Kalt, skrupellos.
Othello begreift, hat aber keine Kugel mehr für Jago übrig. Er, der Depressive, legt sich wortlos zu den Toten und haucht seine Seele aus. Einsam bleibt Jago zurück in der Manege. Zieht Taschentücher aus der Hosentasche. Eins nach dem anderen. Seine Intrigen wären noch ewig so weitergegangen.