Unter der Kuppel des Reichstags
Friedrich Hebbel ist auch dabei. „Jaja, so war das damals“, sagt er gelassen und blickt mit einer gewissen Altersmilde auf sein Werk zurück. „Jaja, ich schlug ihn tot.“
Wolfgang Rüter gibt den Dramatiker und erzählt uns bereits vor Beginn der Aufführung von seinen Figuren. Da steht er noch vor dem geschlossenen Vorhang. Später wird er unauffällig von der Seite der Bühne das Geschehen beobachten und sparsam eingreifen. Anfangs wirkt das, als sitze Großvater im Lehnstuhl und erinnere sich an alte Zeiten – ein geistig allerdings noch höchst präsenter Großvater mit schmunzelnder Distanz und nicht unkritischem, aber sympathisierenden Blick auf das, was er damals anrichtete. Immerhin erfand er eines der gewaltigsten Dramen deutscher Zunge.
Das Nibelungen-Epos sei „der deutscheste aller deutschen Stoffe“, hat Heiner Müller, der nicht weniger gewaltige Held deutsch-deutscher Dramatik des 20. Jahrhunderts, einmal gesagt – und so besteht die zentrale Metapher des an Metaphern nur so überquellenden Bühnenbildes von Vytautas Narbutas aus dem Gerippe der Reichstags-Kuppel. Könnte auch ein isenländisches Iglu oder eine kirgisische Jurte sein – ist es aber nicht: Spätestens wenn Siegfried die Kuppel erklimmt und mit einer Deutschland-Fahne schmückt, wissen wir Bescheid: Von halbrechts genießen wir exakt den gleichen Blick wie aus dem Fenster des ICE kurz vor der Einfahrt in den Berliner Hauptbahnhof. Und die Burgunder? Sie schälen sich aus dem deutschesten aller deutschen Autos – aus einem etwas angegammelten BMW.
Sie sind Leute von heute. Sie sitzen auf dem Sofa, ‘ne Pulle Bier in der Hand, flachsen herum und schwelgen in den alten Mythen. Doch dann: wird Eis und Schnee aus der offenen Kühlschranktür geweht, und es erklingt Filmmusik: Auftritt Siegfried. Hajo Tuschy, mit etwas schwächlicher heller Loser-Stimme, ist scheinbar ein Würstchen im goldbraunen Anzug. Die Burgunderhelden berichten ihm gleich von ihrer Lust auf Brunhild – und da ist Siegfried platt: „Ach was…! - Die nord’sche Jungfrau wollt ihr heimwärts führen?“ - „Jau“, ist die nordisch hamburgische Antwort. „Der flüssiges Eisen in den Adern kocht?“ – „Jau!“. So langsam werden die Leute von heute Hebbels Leute von gestern. Aber noch wirkt der Abend dezidiert komödiantisch.
So wird er nicht bleiben. Das Komödiantische blitzt immer mal wieder durch, aber die Inszenierung des isländischen Regie-Shooting-Stars Thorleifur Örn Arnarsson besticht eher durch ihre präzisen Stimmungswechsel. Giselher gibt unmittelbar vor der Pause (als längst noch nicht Kriemhild, sondern Brunhild nach Aufdeckung des an ihr begangenen Verrats RACHE fordert) das Signal zum Kippen in die Tragödie: „Wird das hier alles ernst?“, fragt er irritiert: „Für eine solche Kleinigkeit wollt ihr den tollsten Mann auf Erden töten?“ Die Kuppel des Reichstags wackelt, als der Mord an Siegfried beschlossen ist. Und als Siegfried schließlich getötet wird, liegen Comedy und Schurkenstück ganz nah beieinander: Immer wieder versucht er auf nahezu kindische Weise, mit seinen Heldentaten zu prahlen – das hat Witz, das ironisiert die frühere Stilisierung Siegfrieds zum blonden arischen Helden. Doch dann kommt Hagen.
Der steht lange Zeit weniger im Vordergrund als aus anderen Inszenierungen gewohnt; lange gibt er den Normalo, den fürsorglichen, fast ein wenig naiven Freund. Doch nun setzt Glenn Goltz mit fieser Wildwest-Miene zum Stoß in die fatale vom Drachenblut nicht geschützte Stelle unter dem Schulterblatt an. Und taucht fortan in Siegfrieds goldbraunem Jackett auf – ein kleines, unaufdringliches Zeichen für Hagens Zynismus, Machthunger und Streben nach Stärke. Ohne schauspielerisch zu den tragenden Figuren dieser exzellenten Inszenierung zu zählen, steht Glenn Goltz exemplarisch für die perfekt getimeten Stimmungswechsel der Inszenierung. Anfangs ein gelassener Mitläufer der Burgundian Boy Group, wird er nun zum lakonischen Fiesling – oder auch mal zum bösen Conferencier: Es schaudert uns, wenn er zu anschwellender Swing- und Party-Musik den gutartigen, am Helden-Mord nicht beteiligten Giselher unter Druck setzt: „Bist du bereit zu schwören, dass ich kein Mörder und kein Meuchler bin?“ – Giselher schweigt. Er weint. Und er schwört, widerwillig, unter maßlosem Druck. Ein gebrochener junger Mann. Dieser Giselher, Kriemhilds jüngster und am meisten geliebter Bruder und meist eine Randfigur des Dramas, wird von dem siebenundzwanzigjährigen Benjamin Berger gespielt. Und der wird in seiner kleinen Rolle zur schauspielerischen Entdeckung des Abends. Mit Kürzest-Szenen vermag er uns auch emotional zu erreichen. Und er kann alles: Er ist sympathischer Springinsfeld, er ist Comedian, aber er kann auch düster und verzweifelt.
Düster wird der Abend im wahrsten Sinne des Wortes, als der dritte Teil des Hebbel-Dramas, als Kriemhilds Rache einsetzt. Ab jetzt bleibt die Bühne dunkel, aber Laura Sundermann als Kriemhild, die im ersten Teil recht blass geblieben war, beginnt zu glänzen. Sie entwickelt Charisma und Stärke und gibt ihrer Figur sturen, unbeugsamen Selbstbehauptungswillen, gepaart mit Anzeichen von Irrsinn. Kriemhild ruft: „Ich fordere Gericht.“ Und dann bricht die Hölle los. „Recht!“, fordert sie, steht, nur noch mit einem Bikinioberteil bekleidet, wie eine Freiheitsstatue auf der Truhe, die den Nibelungenhort enthalten mag. Immer wieder wird sie fortgetragen, immer wieder kehrt sie zurück. „Recht!“, ruft sie. „Recht!“ Sieben Jahre lang. Lärm legt sich über die Szene, gelbe und blaue Alarmleuchten flimmern, Musik hämmert, Kampfszenen werden angedeutet. „Recht!“ Arg eingekürzt ist „Kriemhilds Rache“, aber der Schlussteil der Trilogie hat Wucht, hat Rhythmus und beeindruckende Bilder. Aber die Inszenierung ist frei von Brutalitäten: „Ich sollte richten, rächen, neue Bäche ins Blutmeer leiten“, sagt Etzel. Und die Burgunder trinken Rotwein. Der fließt aufs Wams, das rot sich färbt. - Die Städte stehen, doch die Goten reiten? Nein, die Burgunder stehen: starr und stumm. Tot.
Leute von heute, Leute von gestern. Verweise aufs Heute finden sich in Vytautas Narbutas‘ grandiosem Bühnenbild, das insbesondere Freunde von Jürgen Kruses Inszenierungen und seinen vollgemüllten Bühnen begeistern wird. Das Kreuz zentral vor der Kuppel steht für die gerade erfolgte Christianisierung des Landes – vielleicht auch für die vielen im Namen der Religion angezettelten Kriege und begangenen Morde. Auch mancher Burgunder führt sich in zunehmendem Verlauf der Aufführung wie ein Fundamentalist auf. Eine Büste von Abraham Lincoln und eine Statue von Friedrich II., beides Reformer, aber beides Herrscher, die einen Krieg auslösten, entdecken wir neben unzähligen Bücher- und Büroregalen, Antiquitäten und Bildern unter verhängten feudalistischen Kronleuchtern – aber es gibt eben auch den gammeligen BMW oder ein altes Fahrrad, erlegte Tiere (die Burgunder gehen ständig zur Jagd), einen Kühlschrank und ein Fernsehgerät. Wer mag, kann drei Stunden lang Metaphernraten spielen.
Wolfgang Rüter als Hebbel ist so etwas wie ein Verbindungsglied zwischen der alten Mär und dem, was in der Rezeptionsgeschichte des Dramas daraus wurde. Beileibe nicht nur der vergewaltigenden Einverleibung durch die Nationalsozialisten – nein, auch dem fast schon splatterhaften Ironisierungsdrang in den Inszenierungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Manchmal durchzuckt den weitgereisten Theaterfreund an diesem Abend eine ferne Erinnerung an die vielleicht gelungenste Inszenierung dieses Stoffes in den letzten Jahrzehnten von Andreas Kriegenburg an den Münchner Kammerspielen in der Spielzeit 2004/05. Weniger radikal als Kriegenburg, doch konzeptionell durchaus ähnlich arbeitet Arnarsson mit Brüchen, mit Stimmungswechseln, mit überraschenden Pointen und mit unterstützendem oder kontrapunktierendem Musikeinsatz - die Sage liefert mit Spielmann Volker ja den perfekten DJ dazu. Und wie bei Kriegenburg, aber auch wie kürzlich beim Doppelabend am Rheinischen Landestheater Neuss, ist in den ersten beiden Teilen – also solange Rambo Siegfried noch lebt und sich die Burgunder pubertären Kraftmeier-Spielchen hingeben – der komödiantische Anteil größer als bei Kriemhilds Rache.
NRW hat jetzt zwei herausragende Nibelungen-Inszenierungen. Roger Vontobels Inszenierung in Bochum ist der bombastischere Brocken, ist schauspielerisch herausragend und fünfeinviertel Stunden lang fordernd, aber spannend. Bonn wirkt ein wenig leichter, unterhaltsamer – schauspielerisch weniger stark, aber süffig und in hohem Maße kreativ. In Bonn zitiert Wolfgang Rüter als Hebbel zum Schluss das, was in seinem Drama am Anfang steht: „Ich war an einem schönen Maientag, / ein halber Knabe noch, / in einem Garten / und fand auf einem Tisch ein altes Buch.“ Dieses Buch, so beeindruckend illustriert, mit solcher Kreativität wie in Bonn und in Bochum modernisiert und doch werktreu inszeniert, kann man auch zweimal anschauen.
Mehr von Thorleifur Örn Arnarsson in NRW: Am 22. und 23. Februar 2014 gastiert seine Inszenierung von Shakespeares „Romeo und Julia“ im Apollo-Theater in Siegen.