Der Gott des Gemetzels im Theater Fletch Bizzel Dortmund

Einen Colt für Mme Reille!

Beide Frauen lieben Francis Bacon: „Prunk und Grausamkeit!“, schwärmt Véronique Houillé. „Chaos und Gleichgewicht“, ergänzt Annette Reille enthusiastisch. Und damit haben sie Yasmina Rezas bislang erfolgreichstes Stück auf deutschen Bühnen perfekt beschrieben. Zwei kultivierte Paare treffen sich, weil der Sohn des einen dem Sohn des anderen in einem typischen Schüler-Bandenkampf zwei Zähne ausgeschlagen hat. Was die Houillés als Grausamkeit empfinden, war wohl nur das Missgeschick in einem vorpubertären Hahnenkampf ums Abstecken des Reviers. Die Eltern prunken mit ihrer guten Erziehung und ihrer intellektuellen Grundausstattung, doch der Schlichtungsversuch endet im Chaos. Wie Rezas Stück in diesem Chaos mit permanent wechselnden Fronten das Gleichgewicht hält, ist brillant.

Dabei kennen wir diese Typen alle: Monsieur et Madame Houillé, Monsieur et Madame Reille – die haben wir alle in unserem Bekanntenkreis. So pilgern wir alle ins Theater, wir Eltern aus dem gehobenen Bürgertum, kultiviert, gebildet, geschliffen im Auftreten, perfekt in der informellen Kommunikation; so treffen wir uns zu edlem Vino Nobile de Montepulciano und Antipasti Vari in den Wohnlandschaften unserer Eigenheime, die den diskreten Charme der Bourgeoisie versprühen. Treffen uns mit anderen Eltern wie dem stets auf Konsens bedachten Haushaltswarenhändler und Hamsterkiller Michel sowie seiner kulturbeflissenen Frau Véronique, einem wahren linksliberalen Gutmenschen mit großem Herzen für Darfour-Flüchtlinge, aber kleiner Münze für ihren Gatten, mit der kapriziösen Vermögensberaterin Annette und ihrem an diesem Treffen völlig desinteressierten Mann Alain, der permanent am Handy klebt und gerade skrupellos den drohenden Pharma-Skandal seines Mandanten unter den Tisch zu kehren versucht. Treffen uns, um - kultiviert, gebildet, geschliffen im Auftreten, perfekt in der Kommunikation wie wir nun mal sind – die eventuell noch offenen Probleme im Zusammenhang mit der Zähne vernichtenden Schlacht unserer unschuldigen Kinder aus der Welt zu räumen. Racker, die…! (Petze, der! Verräter! Brutaler Bandenchef!)

Wenn man zuvor erzählt bekommt, dass im Verlaufe des kultivierten Gesprächs Annette Véroniques geliebten Kokoschka vollkotzt, Alains Handy in der Tulpenvase landet und Michel den Blumen die Köpfe abbeißt, dann fragt sich das gehobene Elternteil allerdings doch, ob man nicht lieber heute wieder Hamlet guckt. Das mit dem unter Niveau Amüsieren ist unsere Sache ja eigentlich nicht. Also streicht theater:pur diesen Hinweis und berichtet nur, wie atemberaubend in diesem Stück die Koalitionen wechseln, hervorragend motiviert durch einen Text, der die Versatzstücke aus unseren letzten Ehekrächen, aus den egoistischen Auseinandersetzungen vom letzten Elternabend und aus den Zickigkeiten der gehobenen Konversation so perfekt montiert, dass es eine helle Freude ist, die rasanten Wortgefechte, die Süßholz raspelnd vorgetragenen Unehrlichkeiten und Unverschämtheiten, die messerscharfen Verbalattacken zu verfolgen.

Das Theater Fletch Bizzel in Dortmund, eine der ältesten freien Bühnen Deutschlands, hat seine mehr als vier Jahre alte Erfolgs-Inszenierung nach längerer Unterbrechung in etwas veränderter Besetzung wieder aufgenommen – und sie läuft weiterhin wie geschmiert. Seien wir hart, aber gerecht: der Zürcher Uraufführung in der Regie von Jürgen Gosch mit Dörte Lyssewski, Corinna Kirchhoff und Michael Maertens oder den grandiosen Inszenierungen von Karin Beier und Burghart Klaußner an den NRW-Spitzenbühnen in Köln und Bochum kann ein Fletch Bizzel nicht das Wasser reichen – wie sollte es auch. Gosch, Beier und Klaußner hoben das Stück weit über den Boulevard hinaus, beim Fletch Bizzel bleibt es ein harmloses Unterhaltungsstück. Aber Regisseurin Beate Wieser und ihr gut aufgelegtes Ensemble zeigen den Kollegen vom großen Dortmunder Stadttheater, an dem zwischenzeitlich Marcus Lobbes die Komödie mit antikisierenden Regietheateransätzen in den Sand setzte, wie man Reza spielen muss: texthörig und realistisch nämlich.

Na ja, nicht gar so realistisch. Ein bisschen exaltiert darf es schon sein. Das trauen sie sich nicht so recht zu Beginn ihrer Aufführung, die vier Fletch Bizzler. Der sprühende Witz und die bösartigen Pointen der Komödie verstecken sich eine Weile, werden unterspielt und wenig temporeich dargeboten; die von Beginn an explosive Atmosphäre zwischen den Racker-Eltern wird ein wenig zu lange kontrolliert. Doch wenn nach einer guten halben Stunde endgültig die Masken fallen, setzt sich das Stück durch und kitzelt auch im Fletch Bizzel ungeheure Spielfreude aus den vier Akteuren heraus. Die tragende Rolle in Beate Wiesers Inszenierung fällt der Gastgeberin Mme Houillé zu, der gutmenschelnden Darfour-Aktivistin mit Macke und Kokoschka, die penetrant mit ihrer bildungsbürgerlichen Kultiviertheit und ihrem aus sicherer Position im heimischen Wohnzimmer vorgetragenen Drittwelt-Engagement kokettiert - und gleichzeitig als zur Overprotection neigende Zickenmutter mit kleinster Münze Genugtuung fordert für die Balgerei, aus der ihr Sohn als Verlierer hervorgegangen ist. Bettina Stöbe legt diese Rolle zunächst zu kontrolliert und überlegt an und verschleppt damit das Tempo – doch sie ist es auch, die im großartigen zweiten Teil des Abends mit immer neuen exzentrischen Ausfällen zum Lachen reizt. Wären wir mit ihr verheiratet, hielten wir es wohl mit Schiller und nähmen Reißaus: “Du kerkerst den Geist in tönend Wort / Doch der Freie wandelt im Sturme fort.“      

Verheiratet aber ist sie mit dem Weichei unter den vier Streithähnen. Mit Michel, dem Haushalts- und Metallwarenhändler, stets auf Konsens bedacht, gelassen und sympathisch den Jungen-Streich realistisch einordnend. Ivanhoe ist seine Identifikationsfigur – wenn der dicke gutmütige Marco Rudolph, der wegen einer Nagetierphobie den Hamster nicht berühren kann, das Luftschwert zückt, hat er den nächsten Lacher. Dass auch er irgendwann ausflippt, versteht sich von selbst angesichts der Konstruktion des Stückes. Ivanhoe und John Wayne sind auch die Vorbilder von Mme Reille, die bei Christiane Wilke lange der Underdog in der Inszenierung bleibt, bis dass sie endlich besagten Kokoschka vollkotzt. Und was hatte John Wayne? „Einen Colt. Ein Ding, das Leere schafft.“ So schafft Wilke eine Metapher: Denn hier ist es zu voll, die vier Personen bringen das Wohnzimmer der Houillés zum Platzen.

Monsieur Houillé trägt ein grobes kariertes Hemd; der Karriere-Anwalt Alain Reille ist in einen Nadelstreifenanzug gesteckt. So weist die Regie – durchaus im Gegensatz zu Gosch in Zürich oder Klaußner in Bochum – auf Klassenunterschiede zwischen beiden Paaren, zumindest beiden Männern hin, die der Verständigung zusätzlich im Wege stehen. Thomas Gramen gibt den Reille als smarten Manager-Typen, ein wenig von oben herab und demonstrativ desinteressiert am überflüssigen Eltern-Treff. Hinreißend, wie er Véroniques affige Yoga-Übungen mit Usain Bolts Bogenschützen-Pose ironisiert – hinreißend auch, wie der stets Überlegene, der so intellektuelle und skrupellose Strippenzieher in der Wirtschaft vollkommen die Contenance verliert, als Christiane Wilke, seine lange sich beherrschende Göttergattin, das permanent klingelnde Handy in den Tulpen versenkt: „Mein ganzes Leben ist da drin“, schluchzt er verzweifelt – und mancher Manager wird sich fragen, wieviel Wahrheit in diesem Satz auch für ihn steckt – das ganze Leben in einem Büro-Telefon…

Gramen ist es auch, der mitten im größten Comedy-Trubel, als das Publikum sich längst vor Vergnügen ein Ohr abbeißt, plötzlich für Stille im Parkett sorgt. Mit dem Satz, der dem Stück den Titel gab: „Ich glaube an den Gott des Gemetzels. Das ist der einzige Gott, der diese Welt regiert.“ So eindringlich hatten das Klaus Weiß in Bochum oder Michael Maertens in Zürich nicht gesprochen – da hatten wir gelacht über eine von Yasmine Rezas vielen Übertreibungen. Im Fletch Bizzel halten wir für Bruchteile von Sekunden inne. Prunk und Grausamkeit, Chaos und ein höchst fragiles Gleichgewicht hat auch unser Gott über die Welt gebracht. Neben den tollen schauspielerischen Leistungen gebührt der Inszenierung allein für die überraschende Erkenntnis, dass auch diese traurige Wahrheit in Rezas Stück liegt, jede Menge Applaus.