Übrigens …

Verbrennungen im Dortmund, Schauspielhaus

Im Herzen des Vielecks

Gerade ein paar alte Theater heute -Hefte gewälzt. Ungläubig gestaunt. An meinen Recherche-Fähigkeiten gezweifelt. Aber es stimmt: Wajdi Mouawads Verbrennungen, das am 13. Oktober 2006 zeitgleich seine deutschsprachige Erstaufführung in Göttingen und in Nürnberg erlebte, erhielt in der Spielzeit 2006/07 ganze zwei Stimmen bei der Kritikerumfrage zum ausländischen Stück des Jahres. Aber so geht es eben, wenn die Deutschsprachige Erstaufführung an Bühnen von regionaler Bedeutung herauskommt und die großen Theatertanker erst ganz allmählich nachziehen. Ein komplettes Jahr später erst gelang dem Stück der grandiose Durchbruch: mit der bis heute wohl überzeugendsten Interpretation durch Stefan Bachmann am Akademietheater Wien.   

Das Stück ist eine Tragödie von apokalyptischen Dimensionen. Ein Alptraum, der seine Protagonisten ein Leben lang nicht mehr loslassen wird – und den Zuschauer noch nächtelang verfolgen würde, wäre dieser nicht so maßlos beeindruckt von der Konstruktion der Geschichte, dass der Jubel über die gelungene Aufführung seinen Schrecken über den Plot besiegt. Das Stück treibt die Gräuel des Krieges diabolisch auf die Spitze: Was sind schon Tod und Folter gegen das, was die Kinder der in einem ungenannten arabischen Land in einen Bürgerkrieg verstrickten Nawal aufdecken? Gegen das, was Nawal erlebt hat – und in das sie sich geradezu mutwillig hat verstricken lassen, gleichzeitig wie in einer antiken Tragödie schicksalhaft immer mehr in das Desaster hineingezogen werdend. Gegen das, was auch Nawals Kinder Jeanne und Simon, die längst in einem zivilisierten Frieden leben, wohl lebenslang traumatisieren wird. Gleichzeitig ist das Stück aber auch ein Stück Aufklärungstheater, das von einer archaischen Gesellschaft handelt, in der eine Frau nur eine Chance hat, wenn sie Lesen und Schreiben lernt. Nawal lernt nicht nur das; sie entwickelt zudem ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein und eine hochgradig selbstbestimmte Persönlichkeit. Wie der Theaterkritiker Christian Rakow einmal schrieb, inspiriert sie noch nach ihrem Tod ihre Kinder „zu Erkenntnissuche und intellektueller Auseinandersetzung als Mittel der Verarbeitung von Traumata.“

Nawal ist verstorben, als das Stück beginnt; der Notar verliest Jeanne und Simon das Testament. Nawal, die nie mit ihren Kindern über ihre Vergangenheit geredet hat, die distanziert schien, deren Liebe die Kinder vermisst haben, hat ein paar irritierende Wünsche für ihre Beerdigung – und sie hinterlässt jedem der Kinder einen Auftrag: Jeanne soll den totgeglaubten Vater finden, Simon den unbekannten Bruder. Simon lehnt dies zunächst ab, Jeanne macht sich auf den Weg – und Stück für Stück setzt sich eine Biographie zusammen, die zu den monströsesten Leidensgeschichten zählt, die wir in der dramatischen Literatur kennen – und doch ist es das Leiden einer mutigen, unbeugsamen Kämpferin für das Gute, vor der wir unseren Hut ziehen. Mit der wir Mitleid haben. Und die zwangsläufig so verhärtete, dass sie ihren Kindern lebenslang fremd blieb. Am Ende werden wir fragen: Hat sie diese Kinder jemals lieben können? Hat eine Familie mit einer solchen Geschichte eine realistische Chance auf Lebensglück?

Das Stück ist brillant konstruiert. Ja, mögen Kritiker einwenden: es ist verdammt konstruiert: In der Realität sind all die unglücklichen Umstände, in die Nawal gerät, vorstellbar – aber in dieser Konstellation, in dieser Geballtheit? Nun, alles fügt sich mit einer den Hals zuschnürenden Logik zusammen. Ganz mathematisch – Jeanne ist Mathematiklehrerin und doziert zu Beginn über Vielecke: Ein solches Vieleck ist auch das Stück, ist der Lebenslauf von Nawal. „In was ziehst du mich hinein, Mutter“, fragt Jeanne später einmal, als sie ahnt, dass sie einem grauenerregenden Geheimnis auf die Spur zu kommen droht. „Ins Herz des Vielecks“, antwortet die Mutter aus der Vergangenheit.

Trotz aller Brutalität des Geschehens bietet das Stück keinerlei Anlass, die Monstrositäten auch auf der Bühne zu zeigen. Ganz im Gegenteil: Es lebt – neben seinem so herausragend ineinander geschnittenen Plot – von der Sprache: Die ist mal realistisch, mal poetisch, und mal fügt Mouawad wie in Stein gemeißelte Sentenzen ein. Das können von den Figuren bewusst gesetzte Aphorismen sein wie der Satz aus Nawals Testament, der das Motto des Stückes sein könnte: „Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle. Man zieht es nicht so leicht heraus.“ Ein doppeldeutiger Satz, der Gültigkeit hat für Nawal ebenso wie für Jeanne und Simon und der aus einer Erfahrung Nawals in ihrer Jugend resultiert, wie wir bald erfahren werden. Das kann auch scheinbar beiläufig gesprochene traurige Poesie sein: „Ich war bei Chamseddin, und bei ihm sah ich, wie die Zeit kam, um alles zu ertränken.“ Selbst in solchen Momenten wirken die Figuren realistisch; da ist nichts aufgesetzt, nichts zeigefingerhaft. Bei aller mathematischen Konstruktion hat das Stück jederzeit auch eine Empathie-Ebene. Wie die Szenencollage, so scheinen auch die Sprachebenen des Stücks mit mathematischer Genauigkeit gesetzt – kalkuliert, aber auch emotional wirkungsmächtig.

Ja, dieses Stück hat Poesie und Kalkül, und die Monstrositäten bleiben unserer Phantasie überlassen. Das Regieteam hat diese Tatsache optisch noch betont: Nahezu klinisch weiß sind Bühne und Kostüme, wie in einem Versuchslabor. Mit nur minimalen Veränderungen der Kostüme werden später neue Szenen, gegebenenfalls auch neue Charaktere angedeutet. Die charakterlichen Unterschiede zwischen beiden Kindern macht Coltof gleich zu Beginn sinnfällig deutlich: Jeanne gibt Mathematikunterricht, und parallel dazu sehen wir Simon beim Boxtraining – da haben wir die intellektuelle Analytikerin und den emotionalen Sportler. Nur er, der Emotionale, der sich beim Training abreagiert, trägt in der Eingangsszene dunkle Kleidung. – Das dem Stück inhärente Motiv der antiken Tragödie verstärkt Coltof mit der Einführung eines sechsköpfigen Chores, der aus Migrantinnen verschiedener Ethnien zusammengesetzt ist, die vorübergehend in ihrer jeweiligen Heimatsprache sprechen – die Regisseurin will die Geschichte keineswegs nur im arabischen Raum verankern. Tatsächlich sind Verrat und Vergewaltigung, Folter und Verkarstung von Gefühlen, Leid und Mitleid Begleiter jeder kriegerischen Auseinandersetzung, unabhängig von Geographie, Ethnie oder Religion.

Das Schauspiel Dortmund spielt Mouawads Text weitgehend ungekürzt. Dennoch benötigt Liesbeth Coltof nur 130 Minuten für die Aufführung. Die großartige Inszenierung von Matthias Gehrt an den Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach (siehe hier) benötigt fast eine Dreiviertelstunde länger. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass Gehrt dem Text stärker vertraute als Coltof – insbesondere die ein wenig gestanzten Sentenzen, die dem Stück seine tragisch-poetische Atmosphäre verleihen, werden bei Gehrt mutig und selbstbewusst ausgestellt, während Coltof sie eher verschluckt. Zu Beginn wird der sprachlich so brillante Text in Dortmund manchmal zu schnell gesprochen, in den berührenden Szenen einer beginnenden Freundschaft zwischen Nawal und Sawda hört sich das geradezu nach Weiber-Geschnäbbel an.

Daran Anstoß zu nehmen, wäre aber Meckern auf hohem Niveau. Wahrscheinlich finge dieses Stück jede Inszenierung irgendwann ein. Aber das Dortmunder Ensemble findet ohnehin nach etwa einem Drittel der Spielzeit zu dem dichten, berührenden, dem Zuschauer aber auch die Luft nehmenden Spiel, das diesem Text angemessen ist. Friederike Tiefenbacher als Nawal trägt das Stück; es ist hinreißend, mit welcher Glaubwürdigkeit sie ihre Figur sowohl als junges, knapp 20jähriges verliebtes Mädchen als auch als gereifte, vom Leben gezeichnete Frau verkörpert. Ihr nicht nach steht Julia Schubert als Jeanne, die mutige kopfgesteuerte Mathematikerin, die mehr und mehr von der grausamen Emotionalität der Geschichte angepackt wird und sich zu einem ihren Emotionen vertrauenden Wesen entwickelt. Und neben vielen anderen ist unbedingt der Ensemble-Neuling Peer Oscar Musinowski zu nennen, mit dem das Schauspiel Dortmund ganz offensichtlich ein großes Talent an Land gezogen hat: Er spielt sowohl den jungen Liebhaber Nawals als auch den brutalen teuflischen Schlächter. Wenn er gegen Ende in einem ungeheuer starken Solo das Publikum anspricht, wenn er nach Aufdeckung aller Rätsel erschüttert zusammenbricht, dann stehen auch uns im Parkett die Haare zu Berge. Ein großartiger, spannender und erschütternder Abend.