Übrigens …

Supergute Tage im Junges Schauspiel Düsseldorf

Der Hund ist tot

Die ersten Zuschauer haben bei der Premierenfeier bereits ein Glas Rotwein in der Hand, als Jonas Anders erneut die Bühne betritt. An Tafel und Flip Chart weist er nach, dass das vor einer Viertelstunde mit für den Rezensenten undurchschaubaren Formeln definierte Dreieck ein rechtwinkliges gewesen sein muss: per Satz des Pythagoras: a² + b² = c². Ganz souverän macht er das: Gerade noch mit rhythmischem Applaus gefeiert, lässt er sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als ein mutmaßlicher Lehrer im Auditorium ihn auf einen Fehler aufmerksam macht. Im Anschluss ans Theater gibt es also eine Mathe-Stunde; nach und nach füllt sich der Zuschauerraum wieder, Jung und Alt entdecken die Liebe zur Geometrie und applaudieren erneut. Sonderbare Welt bei Christopher Boone im Jungen Düsseldorfer Schauspielhaus – und eine der originellsten Theater-Ideen seit langem.

Jonas Anders spielt den Christopher, der bereits während der Aufführung zur Erläuterung seiner Mathematik-Aufgaben angesetzt hatte. Nee, die Leute wollen doch Theater gucken; Mathe interessiert die jetzt nicht, hatte Lehrerin Siobhan ihn zurückgehalten – das kannst du nach dem Schlussapplaus machen. „Genau“, sprach Christopher, „nach dem Schlussapplaus kommt das Beste.“ Dabei war’s auch vorher schon gut …

Christopher, ein fünfzehn Jahre alter Junge, leidet am Asperger-Syndrom, einer leichten Form des Autismus. In der sozialen Interaktion, vor allem im Senden und Empfangen nonverbaler Signale in der Kommunikation sind solche Menschen eingeschränkt; Intuition und flexibles Einstellen auf Veränderungen oder neue Situationen ist nicht ihr Ding. So wirkt ihr Verhalten auf Otto Normalbürger ein wenig merkwürdig. Christopher geht auf eine Förderschule, verfügt aber, wie wir schnell erkennen, über eine überdurchschnittliche Intelligenz – auch das nicht ungewöhnlich für Asperger-Betroffene. Wer mag, darf also mal kurz über ein heißes Thema der nordrhein-westfälischen Schulpolitik nachdenken und sich über Inklusion Gedanken machen. Muss er aber nicht, denn Christopher wird von Siobhan prima gefördert – sie ist quasi gleichzeitig seine Therapeutin. Christopher mag Computer, Mathe und das Weltall und ist gern allein. Außerdem liebt er Primzahlen und die Farbe Rot. Gar nicht mag er dagegen, wenn er berührt wird. Dann gerät er in Panik.

Hunde liebt Christopher auch. Und nun liegt der Köter der Nachbarin Mrs. Shears tot auf der Straße, und in seinem riesigen schwarzen Körper steckt eine Mistgabel. Mord in Swindon! Die Polizei interessiert das nur peripher, aber immerhin schleicht Maximilian Strestik als Polizist im Columbo-Mantel mit Hut und Sonnenbrille durch die Szenerie und inspiziert den Inhalt von Christophers Hosentasche. Da der Detective schnell die Lust an der Aufklärung des Falles verliert, beschließt Christopher, selbst nach dem Mörder zu suchen und über den Fall ein Buch zu schreiben. Da Christopher intelligent ist und keinerlei empathische Fähigkeiten ihn am logischen Denken hindern, wird er den Fall schon vor der Pause lösen, doch dummerweise stößt er dabei auf ein weiteres Geheimnis: Seine angeblich vor zwei Jahren verstorbene Mutter ist keineswegs tot, sondern sie lebt mit dem geschiedenen Ehemann der Hundebesitzerin in London. Mutters Briefe hat ihm der Vater vorenthalten. Christopher also büxt aus und reist allein nach London, was für einen autistischen Fünfzehnjährigen ein ziemliches Unterfangen ist. Ganz behutsam wird der Zuschauer mit den Eigenheiten der Asperger-Patienten vertraut gemacht: Mit Hilfe einer Art Netzplantechnik findet Christopher zum Bahnhof, und Vater, der den verlorenen Sohn aufspürt, ihm dann jedoch seinen Segen für den London-Trip gibt, hat den richtigen Ratschlag für den von den Unwägbarkeiten des Bahnfahrens irritierten Sohn: „Christopher, finde das System!“

Supergute Tage, das Jugendbuch des britischen Schriftstellers Mark Haddon, ist im englischsprachigen Raum längst ein Kult-Roman und wurde in Großbritannien und den USA mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit Simon Stephens hat nun einer der herausragenden zeitgenössischen europäischen Dramatiker, der auch in seinen eigenen Stücken oft Menschen an der Grenze zum Außenseitertum porträtiert, eine Bühnenfassung des Romans geschrieben. Entscheidend für die Rezeption des Theaterstücks ist der Darsteller des Christopher, Ich-Erzähler des Buches und quasi unaufhörlich auf der Bühne im Einsatz. (In Düsseldorf übernimmt Kruna Savi? die Rolle der Erzählerin zusätzlich zur Rolle der Lehrerin und Therapeutin.) Der 26jährige Jonas Anders meistert diese Herausforderung überzeugend – den autistischen Jungen gleichzeitig mit großer Intensität, aber auch mit wenig Gestik und Blickkontakt und einer manchmal fast automatisiert wirkenden Sprache zu spielen, ist eine Meisterleitung. Unaufdringlich, aber für die Jugendlichen im Publikum jederzeit verständlich zeigt er die „Macken“ des Autisten, die Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten, und fungiert andererseits als Identifikationsfigur. Denn was Christopher widerfährt, ist nichts anderes als das, was viele der Jugendlichen selbst aus ihrem Leben kennen: Er muss Verbote umgehen, gegen ein inflexibles Schulsystem kämpfen und seine wohlmeinenden, zur Overprotection neigenden Eltern ertragen. Ganz schlimm wird es, wenn Mutter ohne Abstimmung mit ihrem Sohn in der Schule anruft, um den Mathematikprüfungstermin zu verlegen – da dreht Christopher durch, der Junge, der zu kontrollierten Emotionen nicht fähig ist, wirft sich auf den Boden und schreit, dass die Wände wackeln. Wie viele der jungen Zuschauer mögen ähnliche Situationen bereits erlebt haben…!

Wenn Christopher so schreit, so leidet, dann setzt verwandelt sich auch die Musik von Johan Leenders in bedrohlichen, kakophonischen Lärm. Meist begleitet der Sound die Aufführung empathisch, manchmal auch ironisch. Flackerndes Licht und eine nervöse Musik symbolisieren das pulsierende London, das für Christopher im krassen Gegensatz zum gewohnten verschlafenen Swindon steht. Identifikationsfigur.u spielen und dabe den ZInsbesondere im ersten Teil unterstreicht eine Musik wie aus alten französischen oder britischen Kriminalfilmen auf sympathisch-ironische Weise das Schaurig-Spannungsvolle des Krimi-Geschehens; Rotlicht gibt der Szene eine geheimnisvolle Atmosphäre. Der Detective hat nicht nur den Mantel von Columbo, sondern auch Pfeife und Gang von Sherlock Holmes – tatsächlich zitiert der Originaltitel des Romans The Curious Incident of the Dog in the Night-Time Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte Silver Blaze. Und ganz wunderbar wird Christophers Liebe zum Weltraum und zu den Primzahlen illustriert: Zu romantischer Klaviermusik leuchten im Raum alle Sterne der Galaxie – es sind die Primzahlen. Die Primzahlen, die Ordnung schaffen, auch wenn niemand versteht, was für eine Ordnung das ist, wie Christopher sinngemäß sagt.

Die deutschsprachige Erstaufführung dieses Stückes fand am 15. September im Staatsschauspiel Dresden statt; drei Wochen später zog das Schnawwl, das Jugendtheater des Nationaltheaters Mannheim, nach, jetzt das Junge Düsseldorfer Schauspielhaus. Regisseurin Wera Mahne hat eine kreative, unterhaltsame Fassung des Stoffs gestrickt, an dem sich sicherlich noch viele Theater versuchen werden. Denn es ist ein großartiges, in hohem Maße zeitgemäßes Jugendstück. Es schildert einen Außenseiter, der sich mit Mut und Eigeninitiative selbst aus der Underdog-Position löst. Der einen Kriminalfall löst, ein Buch schreibt, eigene Grenzen überwindet. „Heißt das, ich kann alles?“, fragt Christopher sich am Schluss, noch zweifelnd, aber überwältigt von seinem eigenen Erfolg. Doch das Stück hat kein ungetrübtes, kitschiges Happyend. Beide Eltern lieben ihn, aber beide sind keineswegs ohne Fehl und Tadel. Es gelingt Christopher, den tiefen Graben zwischen seinen Eltern ein wenig zuzuschütten, aber es kommt nicht zu einer kitschigen Familienzusammenführung. Die Eltern bleiben getrennt, aber die gegenseitige Akzeptanz ist gewachsen. Mit Mut, Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz – kann man da nicht alles? Jedenfalls kann man damit eine wenig perfekte Welt ertragen.