Übrigens …

Der Tod und das Mädchen im Bochum Theater Rottstraße 5

Zugrundegehen an der Vergangenheit

Es gibt Stoffe, für die dieses düstere Gewölbe unter dem Bahndamm an der Rottstraße das ideale Ambiente bietet. Die Handlung von Ariel Dorfmans Der Tod und das Mädchen spielt sich eigentlich in einem großbürgerlichen Wohnzimmer ab, doch der Stoff hat etwas Klaustrophobisches; Paulinas Gedankenwelt ist düster, bedrohlich und eng. Paulina Salas ist traumatisiert, seit sie, einst Widerstandskämpferin wie ihr Mann Gerardo Escobar, durch die Schergen der Militärdiktatur eines unbekannten Landes (vermutlich Chiles zu Zeiten von Pinochet) entführt, gefoltert und vergewaltigt wurde. Zu Schubert-Musik – immer noch ist Schubert „mir der Liebste aller Komponisten, so traurig und voller Wehmut für das Leben“, sagt Paulina. Doch seit ihren Vergewaltigungen kann sie seine Musik nicht mehr ertragen.

Zu Beginn des Stückes kehrt Gerardo aus der Hauptstadt zurück, wo er zum Mitglied des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur ernannt wurde. Auf der Rückfahrt hatte Gerardo eine Autopanne. Ein freundlicher Helfer hat ihn nach Hause gefahren. Kurze Zeit später taucht dieser Mann, ein Arzt, wieder auf, offensichtlich neugierig geworden wegen der neuen Funktion Gerardos. Paulina glaubt, in diesem Dr. Miranda den Mann zu erkennen, der sie im Foltergefängnis mehrfach vergewaltigt hat. - Paulina ist mit der Tätigkeit ihres Mannes im Untersuchungsausschuss nicht einverstanden. Sie will keine langen, objektiven Untersuchungen, sie will… Gerechtigkeit? So sagt sie zu Beginn. Später erkennt sie: „Es gibt keine Gerechtigkeit. Es gibt nur Wahrheit. Und auf die kommt es am Ende an.“ - Eines werden wir am Ende ganz sicher nicht kennen: die Wahrheit.

Bis zu einem gewissen Maße will Paulina auch Rache. Sie will die Täter konfrontieren mit der Angst, der Willkür und der Bedrohung, der sie selbst einst ausgesetzt gewesen war. Sie knebelt und foltert den Besucher; sie fordert ein Geständnis. Das sie am Ende auch erhält – doch weiß niemand, ob dieses Geständnis nur abgelegt wird, weil Dr. Miranda dem Tod entgehen will, oder ob es der Wahrheit entspricht. Paulina, das Opfer, ist zur Täterin geworden – unabhängig davon, ob Miranda Scherge des Regimes oder, wie er selbst behauptet, während der Militärdiktatur im Ausland gewesen ist. Gerardo, Paulinas Mann, schwankt wie der Zuschauer hin und her zwischen den Positionen: der Verteidigung Mirandas, weil er ihn für unschuldig hält, und dem Glauben an Paulinas Gedächtnis.  

Alexander Ritters Inszenierung beginnt mit einem großartigen Bild. Paulina steht in orangefarbenem Licht hinter einem durchsichtigen Gaze-Vorhang. Gewitter, Starkregen. Der Strom fällt aus. Kerzen erleuchten notdürftig den Raum; wir hören die quietschenden Reifen eines Autos. Und wir hören: Schubert-Musik, sein Streichquartett in d-Moll „Der Tod und das Mädchen“. Aus dem Radio hatten wir gerade die Interpretation des Schubert-Lieds durch Gerald Moore in der BBC gehört: „Death is a comforter, not something to be dreaded.“ – Es lohnt, am Ende des Abends über diesen Satz noch einmal nachzudenken.

Immer wieder werden Musik – nicht nur, aber häufig von Schubert – und Videobilder großartige, geheimnisvolle Film-Noir-Atmosphäre ins Gewölbe zaubern. In einem beklemmenden, alptraumartigen Bild fesselt und knebelt Paulina den Arzt – Vorbereitung zur Folterung, in Szene gesetzt wie der Beginn einer SM-Sitzung. Wie alle musik- und videountermalten Passagen an diesem Abend entwickelt die Szene einen geheimnisvollen Sog und große Spannung im Sinne von suspense. Paulina stellt die Situation nach, der sie im Beisein eines (dieses?) Arztes im Gefängnis ausgesetzt war. Es ist eine Umkehrung der Verhörsituation – das Opfer verhört den Täter. Gerardo ist entsetzt, kann doch Paulina den Mann, dem sie nach eigenen Angaben stets nur mit verbundenen Augen begegnete, auf keinen Fall erkennen. Doch: „In all den Jahren hat es nicht eine Stunde gegeben, in der ich nicht diese Stimme gehört habe“, sagt Paulina. Und: „Er hat sich selbst ausgeliefert.“ – Ja, selbst das scheint als Möglichkeit auf: dass sich der Doktor des Todes bewusst seinem Opfer stellt, weil sein Gewissen die Schuld der Vergangenheit nicht mehr aushält. Vielleicht aber ist er auch unschuldig, wie Gerardo lange Zeit glaubt…

Ist Paulina verrückt oder verzweifelt? Vor Verzweiflung irre geworden? „Wenn Wahnsinnige an der Macht sind, muss man sich ihnen fügen“, entgegnet Gerardo dem von Paulina bedrohten Doktor  – wenn Felix Lampert als Gerardo das spricht, weiß man nicht, ob dieser Satz eine Aussage oder eine Frage ist. Wird man? Muss man? Sollte man, um sich nicht selbst zu gefährden? – Solche Aussagen haben eine Mikro- und eine Makro-Ebene, einen individuellen und einen gesellschaftlichen Bezug. Paulina war trotz Folter offenbar mutig genug, um ihren Verlobten nicht zu verraten. Man kann denken an Hitler, Pinochet, Paulina. Sollte Miranda gestehen, auch wenn er unschuldig ist? Wird man sich in einer Diktatur anpassen – oder sollte man, muss man nicht Widerstand leisten? Mit welchen Folgen? Übrigens: Auch Dorfmans Motiv von dem Schubert liebenden Folterer finden wir bei den Mythen und Tatsachenberichten über die Nationalsozialisten wieder, bei den irritierenden Berichten der Überlebenden des Holocaust von gebildeten, kultivierten Musikliebhabern, die in ihrem beruflichen Alltag Bestien waren.

So weist dieses grandiose kleine Stück immer wieder über den scheinbar im Vordergrund stehenden individuellen Polit-Krimi hinaus. Die Traumatisierung Paulinas steht letztlich für die Traumatisierung der ganzen Gesellschaft: in Chile nach Pinochet, in Deutschland nach 1945. Vielleicht sogar, so sagt jedenfalls Regisseur Alexander Ritter, für viele Länder Osteuropas nach der Wende. Und das Stück stellt Fragen: nach der Verstrickung der Opfer, wenn sie Rache für ein geeignetes Mittel zur Wahrheitsfindung halten. Nach der Gültigkeit von Täter- und Opferrollen Jahrzehnte nach der Tat. Es stellt schmerzende Fragen, die auch für die Aufbereitung der deutschen Vergangenheit von hoher Relevanz waren und sind: Ist die konsequente Verfolgung der Täter und deren kompromisslose Bestrafung ein geeignetes Mittel für die Genesung eines geschundenen Volkes? „Auch eine Überdosis Wahrheit kann töten“, sagt Dr. Miranda einmal. Und: „Wir gehen noch zugrunde an der Vergangenheit.“ - Ja, das Stück zwingt auch zum Nachdenken über Notwendigkeit und Grenzen von Wahrheitssuche und Verdrängung. 

Wie die drei Schauspieler das spielen, ist von beklemmender Intensität. Jessica Maria Garbe erweist sich als Rottstraßen-Tausendsassa – wir sahen sie gelöst, schwelgend im Vergnügen in Karoline Behrens‘ „Amphitryon“ (siehe hier), hochintellektuell konzentriert als „Kassandra“ (siehe hier) und nun als die Frau, die lange erfolgreich gegen ihre Traumatisierungen angekämpft hat und bei der nun Hass, Verzweiflung und Eifersucht ausbrechen und sich mit kühler, planerischer Intelligenz mischen. Sie gibt eine starke Frau, eine Intellektuelle, eine ehemalige Widerstandskämpferin, stolz und doch in ihrem Inneren gebrochen - mit großer Glaubwürdigkeit und Präzision vermag sie die vielfältigen, widerstreitenden Facetten ihres Charakters darzustellen. Felix Lampert hat wie immer das Feuer in den Augen – doch großartig zeigt er, wie die anfängliche Stärke und Überzeugung Gerardos bröckelt, wie er festzuhalten sucht an seinem in der Demokratie gefestigten Weltbild und doch immer unsicherer wird, als er spürt, dass es die einzige Wahrheit in dieser Geschichte nicht geben wird. Jost Grix als Dr. Miranda gibt den Normalo – einen nicht unsympathischen, ganz vernünftigen Zeitgenossen, der gerade dadurch etwas Sphinxhaftes bekommt.

Ob er bei seinem geradezu pervers wirkenden Geständnis die Wahrheit sagt, wissen wir nicht. Ein wenig legt Alexander Ritters Inszenierung diese Vermutung nahe. Hinweise genug dafür gibt es in dem Stück. Aber es bleibt bei einer begründeten Vermutung. Das Geständnis steigert noch einmal Grausamkeit und Grusel. Eindringlich spricht es Jost Grix im Video. Der Arzt hat den Frauen, indem er sie nach den Folterungen sanft auffing und ihre Wunden wusch, geholfen, und sie haben ihm dann, während sie hilflos dalagen mit immer noch verbundenen Augen und er mit ihnen schlief, jede Menge Befriedigung gebracht. „Schade, dass es vorbei ist“, sagt Dr. Miranda. „Sehr schade.“

So könnte es gewesen sein. Nur: Wer war dieser Arzt? Und wie geht es nun weiter?