Weder im Eis noch im Bier findet sich Glück
Was predigst du vom Fasten und vom Beten?
Statt zur Moschee lass uns ins Weinhaus treten,
Füll Krug und Becher, eh‘ sie deinen Staub,
Khayyam, zu Krügen und zu Bechern kneten.
(Omar Khayyam, Rubai 126, aus: Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers)
Der hübsche Vers des persischen Mathematikers, Dichters und Philosophen Omar Khayyam (1048 – 1131) findet sich zentral im Programmheft zum jüngsten Geniestreich des Düsseldorfer Schauspielhauses. Betrunkene heißt das Auftragswerk, das der russische Dramatiker, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Iwan Wyrypajew für das Düsseldorfer Theater geschrieben hat. Dessen hierzulande bekanntestes Werk ist Sauerstoff, das in Nordrhein-Westfalen unter anderem am Theater Aachen, am Schauspiel Dortmund und am Schauspiel Bonn zu sehen war. Es wurde im Jahre 2003 in Moskau uraufgeführt. In der Regie von: Viktor Ryschakow, der nun die Uraufführung von Betrunkene in Düsseldorf besorgte.
Sauerstoff gehört zu den eher provokativen, konfrontativen Stücken des Dramatikers. Heute, so sagt Stefan Schmidtke, Wyrypajew-Übersetzer und Dramaturg der Aufführung, suche der Autor nicht mehr die Konfrontation, sondern „einen Balancepunkt, um über das Gute und Schöne zu sprechen und es so blühen zu lassen, wie man es sich wünscht.“ - Was da blüht in der Phantasie von Betrunkenen, ist bekanntlich oft von besonderer Poesie. Andererseits, so sagt man, spricht der Betrunkene die Wahrheit...
Vom Fasten und vom Beten lässt sich ja auch im Weinhaus predigen – auf jeden Fall ist das lustiger. Eine Komödie nennt Wyrypajew sein Stück – der erste Teil scheint seine Wurzeln in der Tradition der russischen Absurde zu haben und ist schwebend leicht, grotesk und witzig. Weniger vom Fasten, aber viel von Gott faseln die 14 Betrunkenen in den kurzen Szenen, von Gott und Tod und Liebe, von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Nicht nur der Autor sucht in diesem Stück den Balancepunkt – auch die Figuren torkeln zunächst merklich angeschickert hin und her. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das so grandiose wie genial einfache Bühnenbild von Maria Tregubova und Alexej Tregubov: eine sehr schiefe Ebene, auf die ein schachbrettartiges Schwarz-Weiß-Muster projiziert wird, das in manchen Szenen zu fließen beginnt. Das unterstreicht die verschwommene Perspektive der Betrunkenen und gleichzeitig ihren Wunsch nach Halt und Einordnung. (Später werden von Szene und Szene mehr Polstermöbel und Esstische vom Schnürboden heruntergelassen – die Szene ein Salon.) Kakophonische Musik begleitet diese virtuosen Balanceakte, ist Präludium und Interludium zwischen den kurzen, anfangs recht zusammenhanglos erscheinenden Szenen: Die nicht beschäftigten Schauspieler sitzen rechts und links der schrägen Spielfläche und knuddeln Papiertüten, pusten in Blasrohre, bewegen Kugeln in Trichtern und anderes mehr. Absurd auch das – und vielleicht eine Metapher für das leichte Chaos in den Köpfen der Betrunkenen, für das etwas andere Knacken von deren Gehirnwindungen.
Die vierzehn Figuren des Stücks entstammen der gehobenen Gesellschaft, könnten auch Düsseldorfer Schicki-Micki-Menschen sein. Die Männer sind Banker, PR-Manager, Werbe-Fuzzis oder Stellvertretende Baulöwen, die Frauen ihre Gattinnen oder Freundinnen, Models oder einfach nur „ein schönes Mädchen“. Einer Berufsgruppe zuordnen lässt sich nur die Prostituierte, der Jennifer Frank als nicht auf den Kopf gefallene Suchende ein interessantes Profil verleiht. Sie alle sind einer Upper Middle Class Party entsprechend gekleidet und waren vor Beginn des Abends lange beim Friseur: Hinreißend ihre ausgefallenen, schrillen Haartrachten.
Zumindest der erste Akt sprüht vor skurrilem Humor und schwebend leichtem Aberwitz. Am Abend der Hochzeit von Laurenz und Magda bändelt Laurenz im Beisein seiner Frau noch einmal mit seiner Ex-Frau Laura an; die Banker Gustav und Karl streiten in einer der verstiegensten Szenen darüber, ob Karls Mutter von ihrem Kater umgebracht wurde, während Karl endlos wiederholt, dass seine Mutter lebe; im vegetarischen Restaurant von Max‘ Eltern gibt es kein Fleisch (und die Küche ist eh längst kalt), so dass man sich ständig im Kreise dreht, ob man nun woandershin aufbrechen müsse. Doch schon hier deuten sich in den wirren und schwankenden Gedanken der Betrunkenen die großen Themen unseres Lebens an: Liebe, Tod, Betrug und Wahrheit. Und Gott. Magda sieht den Gatten ihre Vorgängerin abknutschen und stellt ganz ernsthaft die Frage, ob wir tatsächlich alle sterben müssen – und plötzlich wird – hier noch auf amüsante Betrunkenen-Art - über Tod und Vorsehung philosophiert. Rainer Galke und Michael Abendroth, die beiden Banker, setzen ihre absurde Unterhaltung über den Kater und andere potentielle Schuldige an Mutters Tod mit der Frage fort, wieso sie zwei Individuen, aber nur ein Gott sein können, und entwickeln eine verstiegene transzendentale Philosophie auf der Basis der sprachlichen Rituale des christlichen Abendmahls. Und der Operations Manager Max hört das Geflüster des Herrn in seinem Herzen. Es sind groteske, kauzige, manchmal bizarre Unterhaltungen mit philosophischem Hintergrund – und ernsten Anliegen, die erst im besoffenen Zustand wirklich und wahrhaftig diskutiert werden können...
Tatsächlich bekommt der zweite Akt eine sehr viel ernsthaftere, geradezu existenzialistische Note. Betrunken sind die Gestalten immer noch, aber sie schwanken nicht mehr; die Bühne ist leer, die Gottsuche vergeblich, der Pessimismus der Figuren und die Ernsthaftigkeit der von ihnen untersuchten Themen größer. Exemplarisch mag die erste und die letzte Szene des Abends stehen: Der großartige Dirk Ossig als Mark wird nicht müde zu betonen, dass er Direktor eines internationalen Filmfestivals ist, flirtet im ersten Akt, so gut er das mit seinem benebelten Kopf noch kann, mit der schönen Marta und behauptet: „Es gibt keinen Tod!“ Sogar mit dem Publikum legt er sich an: „Ich weiß genau, was in euren Köpfen vor sich geht: Ihr habt Angst! Wer hat keine Angst, Krebs zu bekommen?“ – Am Ende des Abends werden wir erfahren: Wer Krebs hat, ist Mark, der Filmfestspieldirektor. „Gott ist ein Mafiaboss“, ruft er, „es ist alles nur geliehen.“ Der permanente Verweis auf sein erfolgreiches Filmfestival – es war nur Selbstvergewisserung, Sorge um den Nachruhm. „Es gibt keinen Tod“ war der verzweifelte Ruf eines Menschen, der dem Tod geweiht ist und nicht recht an das ewige Leben glauben kann, der darum ringt, wenigstens im Überleben seines Werkes Spuren zu hinterlassen.
Auch die Liebe ist nur noch ein groteskes Spiel; es gibt weder tiefe Gefühle noch ein Commitment für den Partner. Marta glaubt im Vorübergehen in Gustav den Mann gefunden zu haben, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hat, und der ist auf der Stelle bereit, seine Frau zu verlassen. Laura willigt spontan in eine Heirat mit Max ein, den sie eine Minute zuvor kennengelernt hat. Der bringt das Dilemma in seiner ebenso spontanen Marktplatz-Hochzeitsrede auf den Punkt: „Unsere Generation fühlt nicht mehr.“ Und: „Sie ist auf der Suche nach Freiheit, aber Freiheit wovon?“ – Etwas bildhafter drückt Gustav aus, was den hellsichtigen Betrunkenen dämmert: „Die Welt ist eine Perle in einem Scheißhaufen.“ Aber: „Weder im Eis noch im Bier und schon gar nicht in Karl findet sich Glück.“
Mit solchen irrlichternden Formulierungen und skurriler Poesie hatte uns Wyrypajew im ersten Teil viel häufiger unterhalten. Sein Stück ist durchkomponiert wie eine Partitur; es arbeitet mit vielen Wiederholungen, lässt Motive anklingen und wieder fallen, um sie später wieder aufzunehmen. Im zweiten, philosophischeren Akt wirkt das bisweilen etwas bemüht und langatmig. Erneut aber – wie schon in der vorherigen Premiere von Dostojewskis Spieler - hilft über die gelegentlichen Längen des Abends ein Ensemble hinweg, das sich inmitten der Krise des Düsseldorfer Schauspielhauses zu einem Gipfel seiner Kunst aufschwingt.