Übrigens …

Der Spieler im Schauspielhaus Düsseldorf

Roulette im Hamsterrad

Ach, was ist das schön, wenn eine Theater-Inszenierung so richtig Grund zum Streiten liefert! Wenn sie über Wochen in der Presse diskutiert wird, wenn sie zum Politikum gemacht wird, wenn signifikante Zuschauergruppen unter Absingen schmutziger Lieder die Aufführung zur Pause verlassen und andere noch tagelang enthusiastisch davon erzählen! Das Herz des Schauspiel-Enthusiasten hüpft dann höher, denn für Momente kann er sich einreden, dass das Theater heute immer noch Relevanz habe.

Wenn der Dostojewski-Kenner Martin Laberenz inszeniert, liegen solche Ereignisse in der Luft. Kaum ein Regisseur sprudelt so vor Ideen, kaum einer hat so viel Mut zum Scheitern und kaum einer gibt seinen Schauspielern so viele Freiräume. Durchlaufproben sind seine Sache nicht, dafür umso mehr die Ermutigung seiner Akteure zu Improvisationen, weit über den Zeitpunkt der Premiere hinaus. Idealerweise, so scheint er zu denken, ist kein Abend wie der andere. Die aufsehenerregendste Improvisation des Abends beim Spieler im Düsseldorfer Schauspielhaus hat heute, sechs Wochen nach dem Besuch der Aufführung, ihre Schuldigkeit getan und wurde zu den Akten gelegt. Die Szene sollte ein Politikum werden – jedenfalls taten Lokalpresse und Teile des Publikums ihr Möglichstes, die witzige Szene dazu aufzublasen. Doch die Politik, dem Düsseldorfer Schauspielhaus derzeit alles andere als wohl gesonnen, reagierte souverän. 

Versuch einer Skandalisierung misslingt

Was war geschehen? Dostojewskis Spieler dreht sich 170 Seiten lang um Geld und um etwas, das Dostojewski und seine Figuren als Liebe bezeichnen. Eine mehr oder weniger dubiose Gesellschaft rund um den hochverschuldeten General Sagorjanski treibt sich unter grotesker Hochstapelei im deutschen Roulettenburg herum und hofft auf das Glück im Spiel und den Tod der Erbtante. In der Düsseldorfer Kulturpolitik dagegen dreht sich zum Zeitpunkt der Premiere alles um ein Defizit des Schauspielhauses in Höhe von ca. 5,4 Mio. €, das dem Aufsichtsrat, also der Stadt Düsseldorf und dem Land Nordrhein-Westfalen, angeblich lange Zeit vorenthalten und vom Geschäftsführer und interimistischen Intendanten durch Finanztricks verschleiert worden sei. Was von den Vorwürfen stimmt, weiß außerhalb der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und einem kleinen Kreis von Insidern kein Mensch, aber dass hinter den Kulissen jede Menge schmutzige Wäsche gewaschen wurde, wird deutlich. Und dass Interims-Intendant Weber durch geschickte Spielplangestaltung gerade dabei war, zumindest das ebenso signifikante Besucher-Defizit in den Griff zu bekommen, war ebenfalls zu spüren. (Ausgerechnet Der Spieler wurde zum Beweis dafür, dass dies ohne Einbußen an Qualität und künstlerischen Wagnissen geschehen konnte.) – So passten der Stoff des Stückes, die Risikobereitschaft und Improvisationsfreude des Schauspieler- und Leitungs-Teams und die Situation des Düsseldorfer Hauses wie Arsch auf Eimer, und Michael Abendroth, der den General Sagorjanski gab, stieg vor der Pause aus seiner Rolle aus, erzählte was von diesen ominösen 5,4 Millionen, von langer Führungslosigkeit (jaja, die unglückliche Interims-Situation war ja gerade wieder einmal von der offenbar entscheidungsunfähigen Politik verlängert worden) und von einer „Hexe“, die das Haus möglicherweise ruinieren würde.

Dass damit die Multifunktions- und unter anderem Kultur-Ministerin Ute Schäfer gemeint war, ließ sich kaum übersehen. Manche Zuschauer begannen schon wieder zu nörgeln. Frau Schäfer aber reagierte souverän, ließ ausrichten, sie fühle sich nicht angegriffen und sehe auch keinen Anlass, auf Inhalte der Aufführung zu reagieren. Und Oberbürgermeister Elbers meldete, es käme ihm nicht im Traum in den Sinn, sich in künstlerische Belange einzumischen. – So soll es sein. Vom Interims-Intendanten trennte man sich trotzdem, aber fairerweise muss man sagen, dass es keinerlei Kritik an dessen künstlerischem Programm gab. Michael Abendroths Improvisations-Intervention schien dem Schauspieler damit obsolet, und sie wurde aus dem Repertoire der Extempores getilgt.

Inszenierung polarisiert

Improvisiert wird natürlich nach wie vor auf Teufel komm raus, und der Abend polarisiert unverändert. Das tut er beim Publikum, und das tut er bei der Presse. Wobei es nur im Publikum, aber kaum bei der Presse echte Verrisse gibt. Einigkeit gibt es im Hinblick auf die brillanten schauspielerischen Leistungen, und ansonsten ist ziemlich exakt die Hälfte der Rezensenten der Auffassung, dass der Abend vor der Pause gelungen und danach langweilig sei, während die andere Hälfte ihn vor der Pause für ausufernd und wirr und nach der Pause für eindringlich und fokussiert hält. Der Unterzeichner neigt eher der ersten Meinung zu, gibt aber zu, dass man genauso gut umgekehrt argumentieren kann – es hängt wohl davon ab, ob man im Schauspiel eher das Theaterspektakel oder eher die Literatur sucht.

In Dostojewskis Roman passiert eigentlich nicht viel – da wird herumgelungert, Roulette oder Trente et Quarante gespielt und nach allen Regeln der Kunst intrigiert und von der großen Liebe geträumt. Seitenlang zieht sich die Beschreibung des immergleichen Roulettespiels hin – bei Martin Laberenz in Düsseldorf werden daraus unzählige Minuten. Wie so oft bei Dostojewski sind alle Figuren von vornherein defekt. In fast allen Romanen sind sie Narren, Verlorene, Ziellose. Gefühle wie Liebe wirken selten authentisch – bei Dostojewskis Männern erscheint die Liebe meist als auf irgendwelche hübsche, vermeintlich hochherzige oder bedauernswert gefallene Mädchen gerichtete Projektion, die aus einer kaum begründbaren Torschlusspanik resultiert. Bei den Frauen wirkt Liebe wie eine Mischung aus Hysterie, Intrige und Kalkulation. Im Spieler ist es weniger Hysterie als Berechnung, die die Generals-Geliebte Mademoiselle Blanche und seine Stieftochter Paulina antreibt: Berechnung und Geldgier. Als ihre anvisierte Melk-Kuh Sagorjanski weder im Casino noch mittels Erbtante zu Geld kommt, aber der von ihr eher verachtete Alexej eine Glückssträhne im Casino hat, brennt Sarah Hostettlers Blanche kurzerhand mit dem Hauslehrer durch. Und als der wiederum endlich eine Chance hat, bei seiner geliebten Polina zum Zuge zu kommen, hat sich seine Liebe längst in Spielsucht verwandelt. Liebe hat keine Chance, wenn das Geld lockt. Wirklich lieben kann von Dostojewskis Figuren niemand.

Laberenz findet für die Melange aus Narretei, Verlorenheit und Schmarotzertum vor der Pause überzeugende Bilder. Der Handlungsfortschritt dagegen ist schwer zu erkennen. Gezeichnet wird ein handlungsarmes Gesellschaftspanorama. Einziges Ziel dieser Gesellschaft: Zu Geld zu kommen ohne Arbeit. Einzige Investition dafür: Hochstapeln - mehr Scheinen als Sein. Spielen - und Warten auf das Telegramm aus St. Petersburg, das vom Tod der reichen Großtante kündet.

Doch welch ein Schock: Statt des Telegramms erscheint die Großtante selber, putzmunter und höchst temperamentvoll. Spätestens mit ihrem mit allem Pomp und Circumstance inszenierten Einzug im Begleitschutz der Gerresheimer Blaskapelle bekommt die Inszenierung etwas von einer aus dem Ruder laufenden Party; auf der Bühne herrscht scheinbar sinnlose Aktivität wie in einem Drogenrausch. Alles rennet, rettet, flüchtet in Volker Hintermeiers gigantische Wäschetrommel, die mal als Hamsterrad, mal als Glücksrad das zentrale Element des Bühnenbildes darstellt: Das Auf-der-Stelle-Rennen im Hamsterrad erscheint nicht nur als Metapher für die Situation von Dostojewskis Figuren, sondern in diesem Moment auch als selbstironischer Kommentar des Regie-Teams. Wenn man sich fallen lassen kann in solche Panoramen, wenn man nicht verzweifelt nach logischen Handlungssträngen sucht, ist das höchst unterhaltsam und voller Witz. Und es ist Dostojewski pur, denn auch im Roman gibt es kaum Handlung, bis dass die Ankunft der Großmutter in einer grandiosen, himmelschreiend burlesken Szene zum Höhepunkt des Lese-Erlebnisses wird:.

Nach der Pause wird versucht, alle Handlungsfäden aufzunehmen und die Geschichte zu Ende zu erzählen. Nun sind die Literaturliebhaber an der Reihe – das Erzählerische tritt in den Vordergrund. Mit unendlich langen Monologen, phantastisch gespielt und gesprochen, aber doch die Aufmerksamkeit des Zuschauers strapazierend. Es drängt sich eine Kürzung der elend langen Roulette-Szenen und der Soli auf. Jetzt ist nachzuvollziehen, dass viele Rezensenten der Aufführung fehlendes Timing vorwerfen – ein Vorwurf, der zumindest vor der Pause ins Leere geht: Da hatte zumindest die Vorstellung, die ich sah, einen ziemlich perfekten Rhythmus. Aber Laberenz geht extrem verschwenderisch mit der Zeit um. Das halten nicht alle von uns mehr aus.

Schauspieler sind grandios

Keine zwei Meinungen gibt es über die Leistungen der von Adriana Braga Peretzki in hinreißend bunte, schrille Kostüme gesteckten Schauspieler: Wir sehen eine der besten Düsseldorfer Ensemble-Leistungen dieser Spielzeit. Edgar Eckert als Alexej hat die größte Textmenge zu schultern: Sein hochgradig nervöses, expressives Körpertheater ist auch für den Zuschauer nicht unanstrengend, zieht aber im Laufe der Aufführung mehr und mehr in den Bann. Trotz aller Improvisationen zeigt er ein untrügliches Gespür für den Rhythmus der Aufführung. Eine virtuose, völlig exaltierte Rede bringt nicht nur ihn an den Rand des Nervenzusammenbruchs, sondern das Publikum auch. Aber: Genau so sind Dostojewskis Roman-Figuren…

Sarah Hostettler zeigt erneut, welch große Bereicherung sie für das Düsseldorfer Schauspielhaus ist: So süß, so ätherisch sie sein mag, als sie dem zu Geld gekommenen Alexej die Jacke auszieht und ihn küsst, spürt man doch stets, wie berechnend, selbstsüchtig und eigennützig ihre Blanche ist. Sebastian Grünewald als Mr. Astley und Florian Jahr als blasierter Marquis des Grieux nehmen sich in dem ganzen Trubel etwas zurück und erzielen gerade dadurch Wirkung: „Contenance bewahren ist schwerer als ein nasses Huhn zu spielen“, sagt des Grieux. Genau das gelingt den beiden glanzvoll – und mit viel Ironie. Neben Edgar Eckert die prägende Figur der Aufführung ist Karin Pfammatter als exzentrische Großtante mit Tamara de Lempicka Hut, die das Roulettespiel nicht kennt und ihre Einsätze wider alle Vernunft setzt. Ihr extrovertiertes Spiel bereitet ihre spätere Ekstase vor, wenn sie auch ihr letztes Hemd und Höschen gibt, wenn sie das Geld frisst und doch verliert. Ihr phantastischer Nackt-Tanz zu pulsierender elektronischer Musik, begleitet von der Gerresheimer Blaskapelle, wird zum Höhepunkt der Aufführung. Die großartige Musik von Friederike Bernhardt trägt nachhaltig zur Atmosphäre einer Aufführung bei, die manchmal an Frank Castorfs Stil an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz erinnert, aber weniger selbstbezüglich wirkt als die Werke des Meisters. Die übrigens sind ebenfalls immer zu lang.