Wir gehen nur mit Situationen um
Es ist erst wenige Monate her, dass ein Aufschrei durch die Welt ging: In der Nacht auf den 3. Oktober 2013 kenterte in Sichtweite der Insel Lampedusa ein alter Kutter mit mehr als 500 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea. Sie hatten eine Decke angezündet, um auf sich aufmerksam zu machen, doch das Boot fing Feuer. Ob man ihnen so unverzüglich half wie es geboten schien, erscheint zweifelhaft. Am Ende waren jedenfalls 339 Flüchtlinge tot. Es gab Betroffenheitsadressen nahezu aller europäischen Politiker, Papst Franziskus schaltete sich ein. Die EU müsse ihre Einwanderungspolitik überdenken, hieß es. Geredet wurde viel, geändert hat sich wenig: Wer möchte schon seinen Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat mit bildungsfernen, schlecht vermittelbaren Afrika-Flüchtlingen belasten? Flüchtlinge werden am Eindringen in EU-Hoheitsgewässer gehindert oder schikaniert und schnellstmöglich zurückgeschickt; Staaten streiten sich über angemessene Bemessungskriterien für die Aufnahme von Flüchtlingen. Im Dezember gab es erneut Aufregung über „KZ-ähnliches“ Abduschen unter freiem Himmel von auf Lampedusa gestrandeten Boat People. Und am Wochenende nach der Kölner Premiere von Das Boot ist voll gingen in Hamburg ein paar Leute demonstrieren.
So könnte man das darstellen: polemisch vielleicht, anklagend, die Perspektive der Flüchtlinge einnehmend, deren Los erschütternd und deren Behandlung manchmal menschenverachtend scheint. Doch Inken Kautter und Nico Dietrich tun genau das nicht. Sie werten nicht, sie dokumentieren. Ihr Stück beruht auf Interviews mit 21 verschiedenen Gesprächspartnern, die in der einen oder anderen Form mit der Migrationsproblematik unter besonderer Berücksichtigung der Flüchtlinge und illegalen Einwanderer zu tun haben. Neben den Flüchtlingen sind dies ein Vertreter der Ausländerbehörde, ein Bundestags- und ein Landtagsabgeordneter, eine Asylrichterin, eine Rassismusforscherin, Mitarbeiter der Diakonie und von Amnesty International und viele andere mehr. Aus den Gesprächsprotokollen haben die Autoren eine Collage gebastelt, die eben gerade nicht ausschließlich die Rolle der Flüchtlinge beleuchtet, sondern stärker auf die Funktionsweise und die gedankliche Struktur unserer Gesellschaft blickt. Jeder Satz, der gesprochen wird, ist ein Zitat – selbst grammatikalische Fehler oder Ungenauigkeiten bei der Wortfindung wurden transkribiert und in die Bühnensprache übernommen.
Für ihn sei „Theater ein gesellschaftliches Analysemittel“, sagt Regisseur und Co-Autor Nico Dietrich. Ein gesellschaftlicher Zustand wird aus verschiedenen Perspektiven beschrieben, woraus sich automatisch die Analyse ergibt. Kautter/Dietrich bieten uns deshalb auch keine Identifikationsmöglichkeiten durch feste Rollenzuschreibung: Vier Schauspieler, alle mit Migrationshintergrund, teilen sich die 21 Rollen und schlüpfen mal in die Rolle von Flüchtlingen und Migranten, mal in die Rolle der deutschen Bürokratie, mal in die Rolle der mit unterschiedlichem ideologischem Hintergrund agierenden Helfer.
Bei diesem Ansatz entsteht eine Vielzahl von monologischen Szenen. Manche sind voller Bürokratendeutsch mit geradezu absurden Wort- und Satzungetümen, manche schildern ein Rechtssystem, das nahezu kafkaeske Facetten hat. Manche stecken voller trockenem Informationsgehalt. Aber selbst diese textlich etwas zäheren Passagen rücken uns auf den Leib: weil wir lernen, weil wir erschrecken – vor allem aber wegen der Unmittelbarkeit der Begegnung mit den Schauspielern: Mit diesem Stück eröffnet das Freie Werkstatt Theater die umgebaute neue Multifunktionsbühne im Kellergeschoss. Das Boot ist voll wird auf 20 Metern Breite bei nur drei Metern Tiefe vor nur zwei Sitzreihen gespielt – da kann man sich nicht entziehen, da ist jeder noch so krause Monolog von großer Unmittelbarkeit.
Die Aufführung spricht eine große Palette von Themen an. Von den Lebensbedingungen der Asylbewerber erfahren wir, von der unsäglichen Dauer der Antragsverfahren und der Widersprüchlichkeit der Anforderungen an die Einwanderer. Vom strukturellen Rassismus in der Gesellschaft, von der Kritik der UNO am dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland, das die bestehende enge Verknüpfung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zementiere – mag man auch an der Eignung des costa-ricanischen Zivilrechtsprofessors Muñoz für die Evaluierung des deutschen Schulsystems zweifeln: dass hier ein heißes Eisen von existenzieller Wichtigkeit angesprochen wird, liegt auf der Hand. Ein Politiker räsonniert in seiner Rede über das Dublin II Abkommen, das festlegt, welcher EU-Mitgliedsstaat für einen Asylantrag zuständig ist und das Deutschland als EU-Binnenland bevorteilt. In einer witzigen Szene erleben wir, was der Analytiker später als „Hierarchisierung der Ausländer“ bezeichnen wird: Unbewusst, aber mit unfehlbarer Sicherheit stellen sowohl Deutsche als auch Migranten eine Rangordnung unter den Ausländern auf. Da ist der Italiener akzeptiert, die iranische Ärztin allenfalls nach Klärung ihres Status‘ und die Hilfskraft aus Äthiopien tendenziell gar nicht. Die Spielszene, in der dies demonstriert wird – beim Sprach- oder Integrationsunterricht – ist humorvoll, endet aber mit einer nachdenklich stimmenden Metapher: „Wenn ich ein Vöglein wär / und auch zwei Flügel hätt‘ / flög‘ ich zu Dir“, singt die Multikulti-Truppe. „Weil’s aber nicht kann sein…“
Solche Spielszenen sind an dem knapp 100minütigen Abend in der Minderheit. Inken Kautter und Nico Dietrich haben aus dem mehr als 20stündigen Interview-Material mit teilweise recht pointierten Formulierungen eine überzeugende Collage gemacht, die unzählige Denkanstöße liefert. Aber das „Theater“, das Zusammenspiel der Akteure kommt ein wenig zu kurz. Dabei können diese vier Schauspieler hervorragendes Theater spielen. Sie hüpfen auf brillante Weise von Rolle zu Rolle und beweisen zum Teil große Variabilität des Spiels – zuvörderst Oleg Zhukov, der vom scheuen, verdrucksten, wenig selbstbewussten Schluffen zum souveränen, vordergründig empathischen, aber sich doch auf seine Nicht-Zuständigkeit zurückziehenden Richter am Verwaltungsgericht mutiert, der witzig kann und nachdenklich, hintergründig humorvoll und eindringlich selbstreflektiert. Ihm kaum nach steht Aljoscha Sena Zinflou mit einer ähnlichen Bandbreite an Figuren. Alle Akteure zeichnen sich durch hohe Authentizität aus. Sermin Kayik macht als Lehrerin im Integrationskurs oder als Mitarbeiterin der Ausländerbehörde einfach ihren Job, gutwillig, ein bisschen naiv und mit bei allem guten Willen doch verhältnismäßig ethnozentrischem Weltbild: „Ich bin ein Neutrum. Wir gehen nur mit Situationen um.“
Was Kayiks Figur letztendlich verdrängt, darüber denkt Oleg Zhukov als Mitglied des Kölner Flüchtlingsrats nach, im letzten, ungeheuer intensiv gesprochenen Monolog. Er ist zutiefst reflektiert. Seine Tätigkeit, so sagt er, verändere den eigenen Blick auf die Welt. Zu begreifen, was Menschen anderen Menschen antun, verunsichere ihn. Im Publikum ist es mucksmäuschenstill.