Wühlen in Menschenfleisch
Shakespeares Kaufmann von Venedig ist die dritte Inszenierung des Intendanten Stefan Bachmann für das von ihm geleitete Schauspiel Köln. In dem personenreichen Stück (als Komödie klassifiziert) hat nicht die Titelfigur Antonio unser zentrales Interesse, sondern der bizarre Jude Shylock. An dieser Figur reibt man sich, sie evoziert zutiefst moralische Fragen. Der Geldverleiher, sonst einzig auf optimalen pekuniären Gewinn fixiert, macht bei Antonio, der ihm in der Öffentlichkeit stets nur mit extremer (für damalige Zeiten freilich typischer) Verachtung begegnet ist, eine Ausnahme. Keine Wucherzinsen, sondern ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Gläubigers, sollte der seine Schulden nicht fristgerecht begleichen können. Das Unglück schlägt zu. Antonios Handelsschiffe gehen verloren und mit ihnen das Vermögen des Besitzers. Antonio kann nicht zahlen, und Shylock wetzt vor dem Dogen von Venedig sein Messer.
Warum eigentlich dieser seltsame Vertrag? Shylock sagt: aus Spaß. Aber lediglich deswegen dürfte dieser Mann wohl kaum auf einen einträglichen Gewinn verzichten wollen. In dieser Figur lauert etwas, nämlich ein Urgefühl an Feindschaft gegenüber all denjenigen, welche seine Rasse seit Christi Zeiten verachten, stigmatisieren, demütigen, verfolgen und vernichten. Der Holocaust war zu Shakespeares Zeiten zwar noch kein Thema, aber auch damals wirkte eine latente Judenfeinschaft. Heute lebt man mit der Vergangenheit des Dritten Reiches, alleine das lässt das 1605 uraufgeführte Drama kaum ungebrochen als Komödie rezipieren.
Davon ist beispielsweise die zehn Jahre alte Verfilmung Michael Radfords (mit Al Pacino als Shylock) geprägt, welche zu Beginn mit Dokumentaraufnahmen antisemitischer Couleur aufwartet. In Deutschland/Österreich erinnert man sich wohl noch an eine 1989 entstandene (gänzlich konventionelle) Fernsehinszenierung Otto Schenks, welche durch die Besetzung des Shylock mit Fritz Kortner eine geradezu archetypische Färbung erfuhr. Von Kortner gibt es auch die Bildaufzeichnung einer Plattenaufnahme des zentralen Monologs, wo einem die Racheschreie des Schauspielers geradezu zermalmen. Da wirkt eine urewige Verwundung nach: „begründete Antwort auf den unbegründeten Hass, den ihm eine höchst unchristliche Gesellschaft entgegenbringt“ (Georg Hensel). In Köln wirkt Bruno Cathomas wie ein kleinlicher, peinlich tänzelnder Halsabschneider, welcher den Höhepunkt seines Monologes nur würdelos zu keuchen und zu krächzen vermag. Kaum Fallhöhe, kaum existenziell Tragisches: eine kleine Figur, welche dem Mitleid des Zuschauers entgleitet.
Die schrille Gegenwelt von Venedigs jungen Lebemännern wird von Bachmanns Inszenierung besser eingefangen, oft freilich auf unter Zuhilfenahme operettenhafter Übersteigerungen (in diesem Rahmen virtuos: Johannes Benecke und Thomas Müller als Solanio/Salerio).Gänzlich verfehlt in der äußeren Erscheinung ist die „Primaballerina“ Portia, ein schnöseliges, goldflittriges Girl, welches übergangslos in die Rolle des Advokaten Balthasar schlüpft, welcher verbal und juristisch überlegen das gute Ende herbei führt (außer für Shylock). Wenigstens diese Szene gönnt Yvon Jansen ein Wirkungs-Plus. Sabine Orléans (Kammerfrau Nerissa) macht auf drall, wie von der Natur ausgestattet; die Lovestory mit dem nie wortverlegenen Gratiano (Yuri Englert kann eigentlich freilich mehr als feixen) muss man nicht glauben. Simon Kirsch gibt den Bassanio als eleganten Schnösel, auf den der melancholische Antonio (Gerrit Jansen) offenbar homoerotische Gefühle projiziert. Wenn Lorenzo (deftig: Jakob Leo Stark) am Schluss seine „geliebte“ Jessica (Julia Riedler) an den Haaren mit sich zieht wie weiland Vater Shylock, ist dem Schicksal der zum Christentum überlaufenden Jüdin keine gute Zukunft vorherzusagen. In dieser kurzen Szene geht Bachmanns kraftvoll humoristische Inszenierung mal über Scherz & Co. etwas hinaus. Auch die Gerichtsszene, eingeleitet freilich von dümmlichem Volksgemurmel und anderen Oberflächlichkeiten, enthält Einiges an vertiefender Seriosität (u.a. dank Martin Reinkes rhetorischer Prägnanz). Musikeinlagen lockern die Aufführung, die hochgefahrene Stegbühne von Thomas Dreissigacker besitzt Flair (vor allem bei bestimmter Beleuchtung) und kaschiert ein wenig die Überbreite der Spielstätte Depot 1, deren Akustik freilich problematisch bleibt. Am Ende starker Beifall, nun ja.