Übrigens …

Nathan der Weise im Moers, Schlosstheater

Toleranz aus dem Ofen

„Hier braucht’s Taten!“, rufen alle Figuren in Ulrich Grebs Neu- und Kurzfassung von Lessings Nathan der Weise am Schluss. Da sind knappe zwei Stunden vergangen, und die Aufführung hat uns inzwischen gepackt. Über lange Strecken allerdings hätten mehr Taten Grebs kompliziertem Gedankenkonstrukt gutgetan.

Dabei sind der Jude Nathan, der muslimische Sultan Saladin und der christliche Patriarch von Jerusalem, sind Tempelherr, Recha und Sittah vom Beginn an schöpferisch tätig. Sie sitzen vor einem ziemlich großen Mont St. Michel aus Lehm und kneten Figuren, die sie dann auf dem Berg platzieren. In die Rückwand des kleinen hölzernen Raums, in dem Greb das Stück spielen lässt, hat Bühnenbildnerin Birgit Angele einen Ofen eingebaut, in dem diese zu hübschen kleinen Tonfiguren gebrannt werden. Dieser Vorgang, so sagt die Dramaturgin Jurgita Imbrasaite, soll die Formung des menschlichen Bewusstseins symbolisieren, die Lessing mit seinen Stücken beabsichtige: die Formung einer aufgeklärten, konstruktiven Weltsicht, geleitet von dem Grundgedanken der Toleranz.

Dass das nicht nur mit Töpfern funktioniert, sondern dass es dazu den großen Vordenker braucht, zeigt die Inszenierung schon im ersten Bild. Lessings Utopie von religiöser Toleranz ist ja für ewig und alle Schüler-Generationen in der Ringparabel zusammengefasst, und die lernen die Schauspieler gerade. Mit viel Murmel Murmel, vorgesagt aus Kopfhörern, die vom in Moers nicht vorhandenen Schnürboden hängen. Doch wer hängt da am anderen Ende der Strippe? Gott – der dreieinige Gott der Juden, Christen und Moslems? Lessing, der große gutmenschelnde Aufklärer vor dem Herrn? – Jedenfalls ist es nicht Nathan wie in Lessings Nathan: den gibt es nämlich nicht in Ulrich Grebs Inszenierung. Seine Texte sind auf alle fünf Schauspieler verteilt und werden meistens chorisch gesprochen. Nathan ist die Idee, ist der Gedanke, die Philosophie. Vielleicht eben auch: nur eine Utopie.

Eine fleischlose Idee auf der Bühne packend darzustellen, ist natürlich ein ziemlich ambitioniertes Unterfangen, zumal es sich bei Lessings Nathan ja schon im Original um ein ziemlich papierenes Drama handelt. Greb und sein Ensemble werfen aus den verschiedensten Blickwinkeln kurze Flashlights auf den Begriff Toleranz. Da gibt es Krach beim Töpfern trotz gemeinsamen Ziels. Da gibt es hübsche Leitsätze, die häufig hohl klingen, weil sie jeder kennt, sich im Konfliktfalle aber keiner dran hält: „Toleranz ist unabdingbare Voraussetzung für den Frieden“ etwa. Auf dem Tahrir-Platz hat das noch keiner begriffen, und ob sie das auf dem Maidan alle raffen, darf bezweifelt werden. Vom „Kult des Krieges“, der durch die „Kultur des Friedens“ ersetzt werden müsse, ist die Rede, von der Toleranz, die die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält. An den Wänden ist eine Art Einbürgerungstest für das Reich der Toleranz angepinnt: „Witze auf Kosten von Behinderten lehne ich ab.“ – „Ja, äh … manchmal“, lautet die Antwort.

Heile Welt herrscht also nicht – die fünf Schauspieler, die neun Figuren verkörpern, kämpfen noch heftig mit der in unserem Alltag ziemlich unrealistischen humanistischen Philosophie von Gleichheit, Toleranz und Brüderlichkeit. Saladins Schatzmeister, der Derwisch Al-Hafi, vertritt weiterhin moderne Banker-Thesen und rät, so reichlich Zinsen zu nehmen, „bis dass die Zinsen Euer Kapital werden“; der Patriarch tut sich schwer, sich von allen glaubens-kolonialistischen Kreuzfahrer-Gedanken zu lösen; zwischen Saladin und seiner Schwester Sittah besteht ganz offensichtlich eine inzestuöse Beziehung oder zumindest ein heftiges Verlangen danach, und irgendwann artet die friedliche Knetstunde in eine gar nicht so fröhliche Schneeballschlacht mit den Lehmkugeln aus: Die Kugeln knallen mit einem Geräusch vor die Sperrholzwände wie Kanonenkugeln im Krieg.

Neben dem dominanten Thema der Toleranz schälen sich die Geschichte und der Konflikt um die Rettung der Jüdin Recha durch den christlichen Tempelherrn heraus, die den zweiten Diskursschwerpunkt im ersten Teil der Inszenierung bilden. Das alles wird schauspielerisch hochkonzentriert dargeboten, fordert aber auch vom Zuschauer sehr viel Konzentration. Manchmal wird die „Rekonstruktion“ von Lessings dramatischem Gedicht, die Greb versucht hat, im ersten Teil zu sehr zur Dekonstruktion – ohne Kenntnis des Dramas versteht man vermutlich allzu oft Bahnhof. Zumal trotz Kanonenkugeln und Figuren-Kneten nicht allzu viel passiert auf der Bühne und alle Schauspieler in einheitliche weiße Reifrockkleider gekleidet sind, so dass die Unterscheidung der charakterlich durchaus unterschiedlichen Figuren schwer fällt.

Nach einer Stunde aber entledigen sich alle Schauspieler ihrer Nette-Mädchen-Verkleidung und stehen nun in ebenfalls einheitlicher weißer Unterwäsche vor uns. Im Ofen sind ungezählte kleine Tonfiguren fertiggebacken, die in einer endlos langen Prozedur von den Schauspielern auf dem Lehmberg bzw. um ihn herum gruppiert werden. Fürs Publikum ist das ein verdammt harter Prozess der Entschleunigung, der aber symbolisieren mag, wie lange es zur Formung und Wiedereingliederung des neuen Menschen braucht. Das einige Volk dreier Religionen respektive einer einzigen humanistischen Idee lauscht nun friedlich und innerlich einigermaßen gefestigt der final version der Ringparabel, abwechselnd und eindringlich von allen fünf Schauspielern vorgetragen. Zu den Klängen von „Jerusalem“, dem schönsten Lied der melancholischen israelischen Zwitscherlerche Daliah Lavi, gibt es zahlreiche Umarmungen und Versöhnungsgesten. Zwanzig Minuten dauert es vom Beginn der Ringparabel bis zum Ende der Versöhnungszeremonie – es sind die intensivsten und schönsten Momente der Aufführung.

Und dann platzt Sabine Osthoff mit ihrer Neuigkeit heraus: „Wisset denn, Recha ist keine Jüdin.“ Recha pfeffert verzweifelt ihre Figürchen zurück auf den Lehmberg und weint, weil sie vom vermuteten Vater Nathan fortgerissen werden und zurück nach Europa soll. Gleichzeitig erkundigt sich der Tempelherr beim Patriarchen, was mit einem Juden geschieht, der ein christliches Mädchen aufgezogen hat, und Matthias Heße besteht wiederholt auf seinem Fundamentalismus: „Der Jude wird verbrannt!“ Schwupps haben wir jede Menge Dynamik in der zuvor manchmal reichlich verkopften oder feierlichen Aufführung. Heße, Osthoff und Frank Wickermann klären jetzt chorisch die Herkunft und den wahren Namen des Tempelherrn und decken auf, dass er Rechas Bruder ist. Das berühmte Happy End von Nathan dem Weisen ist ja normalerweise keins, weil Recha zu diesem Zeitpunkt längst über beide Ohren in den Tempelherren verliebt ist und sie ihm nun nur noch platonisch zugetan sein darf – weniger realitätsferne Betrachter als Lessing finden das im 21. Jahrhundert ziemlich tragisch. Bei Marissa Möllers Moerser Recha aber war von großer Liebe vorher nie die Rede, und die Heße-Osthoff-Wickermann-Combo kommt bei der Aufklärung der verwickelten Geschichte wie ein Deus ex Machina daher. Wir können uns also ungetrübt mit Recha freuen.

Der restliche Text wird nun von allen Schauspielern im Chor gesprochen – ein jeder ist Nathan, und so hat ein jeder das als Geschenk eingewickelte Buch in der Hand, aus dem zu guter Letzt auch noch die Verwandtschaft des muslimischen Sultans mit dem christlichen Tempelherrn hervorgeht. Als die Bücher der fünf Nathans ausgewickelt werden, entpuppen sie sich als: Blutkonserven. „Ich deines Bluts! – So waren jene Träume, / womit man meine Kindheit wiegte, doch – / doch mehr als Träume!“, spricht der Tempelherr bei Lessing schließlich ergriffen. Die Schauspieler tauschen ihre Blutkonserven – es mag eine Utopie sein, aber auch in Moers träumt Ulrich Greb von „der Möglichkeit einer friedlichen Gemeinschaft, die Andersheit aufrechterhält“, wie es im Programm-Flyer heißt. Doch dafür „braucht’s Taten!“ – Tolles Ende einer so zäh begonnenen Aufführung.