Übrigens …

Anatol im Oberhausen, Theater

Im Spiegel gefangen

Anatol zeigt sich dem Publikum im Malersaal des Theaters Oberhausen lange Zeit nur indirekt, denn die Bühne ist zur Hälfte von einer groben Holzwand zugebaut. Dahinter sieht man Glasplatten, die je nach Lichteinfall den Durchblick ermöglichen oder spiegeln. Dieses Arrangement von Guus van Geffen hat den Effekt, dass man das Treiben der Titelfigur von Arthur Schnitzlers Einakterzyklus Anatol nur im Spiegel beobachten kann. Genau das ist der Clou der Inszenierung von Bram Jansen, einem jungen Regisseur aus den Niederlanden, der schon mit seiner Diplomarbeit, einer Bearbeitung von Strindbergs Fräulein Julie, international Erfolge feierte. Er hat das Klischee des Frauenhelden Anatol hinterfragt und entdeckt, was diese Figur und ihren Schöpfer wirklich umtrieb.

Als Arthur Schnitzler um 1890 herum seine Einakter um den Dandy Anatol schrieb, war Wien vor allem skandalisiert. Denn hier sprach der Dichter des Reigen schon offen von wechselnden Beziehungen, Seitensprüngen, Treuebrüchen und Lügen aller Art. Später sah man vor allem die melancholische Seite an diesem Casanova, der im tiefsten Herzen so einsam war und verkitschte die Figur damit erheblich. Wenn man sich heute den Text vornimmt, staunt man über die bissige Satire, mit der Schnitzler den eitlen Mann seiner Zeit aufs Korn nimmt, der in jeder Episode seines Trieblebens ewige Liebe erfahren haben will, - wenn nicht er selbst, dann bestimmt die beteiligte Frau. Dass Bianca, die ihm doch einen ganzen Abend lang zu Füßen lag, ihn nach drei Jahren schlichtweg vergessen hat, trifft ihn zum Beispiel zutiefst.

Bram Jansen hat aus der Einakter-Folge mit den verschiedenen Frauen ein Dreipersonenstück gemacht. Angela Falkenhan verkörpert gekonnt die unterschiedlichen weiblichen Temperamente, die es mit Anatol zu tun bekommen, Peter Waros spielt Max, den nüchtern-analytischen Freund des Schwärmers, und der Mann im Spiegel, der uns lange Zeit seltsam fern bleibt, ist Konstantin Buchholz. Dieser Anatol ist in seiner eigenen Welt gefangen. Die anderen können diese betreten und wieder verlassen, er aber hat sich in sein Gewebe aus Illusionen und Einbildungen so verstrickt, dass er nicht mehr zur Wirklichkeit durchbrechen kann. Kein Wunder dass ihn die Eifersucht quält! Darin trifft sich Anatol mit seinem Schöpfer Arthur Schnitzler, der ebenso besessen Frauen verführte wie er sie mit seinem Misstrauen verfolgte. Frauen können ja nicht treu sein, erklärt Anatol wortreich seinem Freund Max in der Szene „Die Frage an das Schicksal“. Als es ihm gelingt, Cora zu hypnotisieren, wagt er es nicht, ihr die Frage nach ihrer Treue zu stellen. Sie könnte ja die Wahrheit sagen!

Der junge Arzt Arthur Schnitzler beherrschte tatsächlich die Kunst der Hypnose, sogar besser als Sigmund Freud, sein etwas älterer Zeitgenosse, der bei ihm in Wien um die Ecke wohnte. Wie Freud erforschte er, was sich in den Tiefen der menschlichen Psyche abspielte, nur setzte Schnitzler seine Erkenntnisse in Literatur um. In den späteren Werken wie den Stücken Das weite Land, Der einsame Weg oder in Erzählungen wie Traumnovelle geschieht das vielschichtiger und beeindruckender, aber die Tiefenpsychologie ist auch schon in Anatol vorhanden, und Bram Jansen hat sie entdeckt.

Nach mehreren Frauengeschichten tritt Anatol aus der Deckung heraus – und beschäftigt sich mit seinem Spiegelbild. Er will es angreifen, be-greifen, aber da ist nur Glas. Das Spiegelbild verwandelt sich zuweilen in seinen Freund Max, zu dem er aber auch nicht durchdringen kann. Die Inszenierung findet beeindruckende Bilder für die Einsamkeit des Narzissten, der versucht, sich selber so zu umarmen, dass er sich einbilden kann, da sei ein fremder Arm, der sich um ihn schlinge.

Es ist eine einleuchtende Erklärung für die Besessenheit dieser frühen Schnitzler-Figur: Wie soll Anatol an die Liebe glauben können, wenn sie für ihn gar keine Wirklichkeit besitzt? Wenn sich die Abenteuer für ihn immer nur in seinem Kopf, in einer Scheinwelt abspielen? Deswegen faszinieren ihn auch Schauspielerinnen so sehr. Die hölzerne Wand im Vordergrund ist eine Theatergarderobe, hier schlüpft Angela Falkenhan in ihre verschiedenen Kostüme (schön charakterisierend von Nadja Turlings), und Anatol versucht manchmal verzweifelt, durch kleine Gucklöcher in die reale Welt des Theaters hinein zu spähen. Natürlich ohne Erfolg.

Man kann den nüchternen Max als Alter Ego von Anatol begreifen, als seine andere Seite, die alles durchschaut, oder als sein Wunsch-Ich: ein Mann der keine poetischen Nebelkerzen wirft, sondern in der Wirklichkeit verhaftet ist. In Oberhausen schlüpft er in der Szene „Weihnachtseinkäufe“ in die Rolle von Anatol. Er trifft eine verheiratete Frau wieder, die er vergeblich begehrt hat, und erzählt ihr von seinem süßen Mädel aus der Vorstadt, dem netten Geschöpf ohne Ansprüche, aber mit ach so ehrlichen Gefühlen. Die Szene ist kitschgefährdet, die Frau beneidet zunehmend das süße Mädel und gesteht, dass ihr zum Lieben der Mut gefehlt hat. In Bram Jansens kluger Inszenierung, die auf Effekthascherei gänzlich verzichtet, und doch so spannend ist, wird klar, dass dieser Satz vor allem auch für Anatol gilt.