Übrigens …

Freitag im Bochum, Schauspielhaus

Was sind das für Menschen…

Schwere Straftaten lösen nicht nur bei den Betroffenen Angst- und Ohnmachtsgefühle aus. Ebenso Unbeteiligte versuchen, der Verunsicherung zu begegnen, indem sie nach Erklärungen für das Unfassbare suchen. Die Frage nach dem „Warum“ ist jedoch bei der Komplexität der Ursachen vieler Straftaten nicht einfach zu beantworten.

Hugo Claus (1929-2008) – Maler, Lyriker, Romancier und Theaterautor – wurde vom Spiegel „Belgiens Jahrhunderttalent“ genannt. Er selbst sagte mal über Literatur: „Literatur wird von Kranken gemacht. Wer gesund ist, schreibt keine Bücher“.

In Bochum inszenierte jetzt der niederländische Regisseur Eric de Vroedt, Jahrgang 1972, Claus‘ Stück Freitag in einer äußerst eindrucksvollen Weise. Ein schwieriger Stoff, geht es doch um das Thema „Inzest“. Georges Vermeersch kommt, wegen guter Führung vorzeitig entlassen, aus dem Gefängnis heim. Verurteilt wurde er wegen Inzests mit seiner Tochter Christiane. In der Wohnung schreit ein Baby, Resultat der Affäre seiner Frau Jeanne mit dem jüngeren Nachbarn Eric. Jeanne macht keinen Hehl aus ihrer Ratlosigkeit, weiß sie anscheinend nicht, zu wem sie gehört. Auch das Kind scheint ihr nicht besonders am Herzen zu liegen. Ein Bild der emotionalen Einöde – einer Welt, in der zwischenmenschliche Kommunikation ein Fremdwort zu sein scheint.

Eric de Vroedt inszeniert diese Tristesse einfühlsam und zugleich realistisch. Zunächst sehen wir die schmucklose Fassade eines Mehrfamilienhauses. Die Vorhänge aller Fenster sind zugezogen. Man hört Streichermusik. Dann hebt sich die Vorderfront. Man schaut in eine schlichte Kleinbürgerwohnung, auf dem Balkon flattert Wäsche. Jürgen Hartmann spielt äußerst intensiv Georges, den Heimkehrer aus dem Knast. Müde steht er da, der graue Anzug viel zu groß. Jeanne (Bettina Engelhardt grandios als ratlose, nervöse Ehefrau) kommt dazu – blass, rote lange Haare, Sommerkleidchen, High Heels. Beeindruckend, wie sie die Zerrissenheit dieser Frau („Was machen wir jetzt?“ fragt sie mehrmals), spielt. Man trinkt erst mal einen. Und da ist Eric – Riko Küster gibt ihn cool und eigentlich unbeteiligt, auch uninteressiert an seinem Kind. Hat er eh vor, den Ort zu verlassen, um allein nach Frankreich zu gehen.

Der Inzest, die Tat, für die Georges verurteilt wurde und die er und Jeanne stets abgestritten haben, wird – ein kluger Einfall des Regisseurs – in Form einer zwanzigminütigen Videoeinspielung gezeigt. Kristina Peters ist Christiane, ein älterer Teenager (aufreizend gekleidet in kurze, weiße Shorts und ein Kuschelsweatshirt), von der ihre Mutter gehässig sagt, sie sei eine „geile Hündin“. De Vroedt mischt in der Collage verschiedenste Impressionen von Vater und Tochter so, dass es dem Betrachter nicht zweifelsfrei möglich ist, klar den Schuldigen zu bestimmen („Ich bohre mich in dir fest wie eine Schraube“, Christiane). Nachvollziehbar für den Betrachter die beiderseitige Verwirrung und Bestürzung, nachdem sie mit einander geschlafen haben.

Ein in mancher Hinsicht verstörender Abend, aufrüttelnd, deprimierend in der Hoffnungslosigkeit der beteiligten Personen – sind doch letztlich alle drei (Georges, Jeanne, Christiane) verletzt und traumatisiert von den Geschehnissen. Bis ins Detail exzellent inszeniert, wobei auch einige Klischees nicht stören. Ein sehr überzeugendes Ensemble. Äußerst sehenswert.