Seine Version des Spiels
Zunächst der Versuch einer Rehabilitation: Die in der Literaturkritik maßgeblichen Feuilletons der Republik haben Juli Zehs jüngsten Roman Nullzeit mehrheitlich verrissen: ZEIT, FAZ und taz fällten in seltener Einigkeit ein Urteil, das die Berliner Zeitung am griffigsten auf den Punkt brachte: Für einen Psycho-Thriller biete die Geschichte zu wenig Psycho und zu wenig Thriller. Einspruch, Euer Ehren:
Spieltrieb, Corpus Delicti, Schilf – allen bisherigen Romanen der 39jährigen Bonner Schriftstellerin sind zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Sie verhandeln ihre Sujets – gesellschaftspolitische Missstände oder bedenkliche soziale Entwicklungen – in Form von komplexen Parabeln auf der Basis einer Krimihandlung. Was Juli Zeh in diesen Romanen zu sagen hat, fesselt und regt zum Nachdenken an. Einen Roman von Juli Zeh hat man auch nach Jahren noch nicht vergessen. Zweitens: Sprachlich wechseln sich in den Romanen und Theaterstücken der Autorin gelungene literarische Formulierungen mit Passagen von geradezu sachbuchartiger Sprödigkeit ab - gelegentlich siegt die Hochintelligenz der promovierten Juristin über die Empathie der Figurenerfinderin. Bei Nullzeit ist das erstmals anders. Die Komplexität des Romans mag geringer sein als bei Spieltrieb oder Schilf – die Sprache dagegen ist süffiger, die Handlung stringent, die Personen sind knapp, aber in ihren wesentlichen Facetten mit Empathie gezeichnet, und selbst Landschaftsbeschreibungen oder sachliche Informationen zur Technik des Tiefseetauchens geraten lebhaft, anschaulich und spannend. Mag sein, dass das Buch vom Tauchen weniger Tiefgang hat als die Vorgänger – aber man liest es atemlos, und es ist voller Doppelbödigkeit. Vielleicht hat ja die reservierte Aufnahme bei der Kritiker-Elite im Unterbewusstsein mit der Szenerie zu tun, in der das Buch spielt: einem Urlaubsparadies mit Sonne, Strand und Meer, zwei hübschen Frauen und zwei auch in der Ausübung ihrer Sexualität sehr unterschiedlich tickenden Männern. Ja, es ist auch eine ideale Urlaubslektüre – es fragt sich nur, ob Sie anschließend noch mit hinaus zum Schnorcheln fahren…
Lanzarote. Sven Fiedler, Jurist wie Juli Zeh, ist ausgestiegen und hat eine Tauchschule eröffnet. Antje, die ihm schon seit Kindheitstagen klaglos gefolgt ist, obwohl er sie niemals umworben hat, ist mitgegangen und macht die Buchführung. Man lebt in einer nicht unglücklichen, aber schon sehr gewohnheitsmäßigen Beziehung. Zu Kunden hält man Distanz – „Raushalten“ ist Svens Devise. Und dann kommen Theo und Jola. Ein Schriftsteller mit One Hit Wonder und 12.400 Google-Treffern und ein deutlich jüngeres, atemberaubend hübsches RTL-Seriensternchen mit 384.000 Google-Treffern. Ein merkwürdiges Paar, das sich gegenseitig und damit auch Sven permanent mutwillig in Gefahr bringt. Das offensichtlich Freude daran hat, sich gegenseitig zu quälen – verbal, manchmal auch durch körperliche Angriffe. Und das Sven unerbittlich in diese Spiele hinein zieht - „Raushalten“, Nichteinmischung ist nicht mehr möglich. Zumal sich Sven in Jola verliebt. Bald geschehen seltsame Dinge. Und ganz langsam entwickeln sich zwei verschiedene Geschichten. Besser: zwei mehr und mehr auseinanderdriftende Versionen ein und derselben Geschichte. Die Version des Ich-Erzählers Sven und die der Tagebuchschreiberin Jola. Unter der Urlaubssonne entstehen bedrohliche Wolken.
Jola (von der Pahlen) ist Schauspielerin, Juli (Zeh) ist Juristin. Jola ist jedes noch so perfide Rollenspiel zuzutrauen, Juli vermag Widersprüche zu kreieren, die kein Jurist in einer späteren Gerichtsverhandlung mehr entwirren könnte. Das Ende dieses Romans ist weniger drastisch als wir zu vermuten begonnen hatten, aber wäre es drastisch geworden, so wäre wohl kein Richter vor einem Fehlurteil sicher. Wir Leser tendieren dazu, Svens Geschichte zu glauben – er begleitet uns über mehr Seiten, er scheint weniger verdorben, er hat das sympathische Flair des Aussteigers und Naturliebhabers. Aber was, wenn es anders ist? Wenn Jolas Geschichte stimmt? Was macht uns so sicher, dass Sven der Verführte, der Vorgeführte ist? Nichts. Vor Gericht hätte er wohl keine Chance.
Die Tatsache, dass wir am Ende überhaupt dazu neigen, Partei zu ergreifen, mag die einzige Schwäche des Romans sein. Vermutlich interessiert das Juli Zeh aber gar nicht. Vermutlich will sie nur parabelhaft aufzeigen, wie schwer Dichtung und Wahrheit im wahren Leben auseinanderzuhalten sind. Wie perfekte Manipulationen funktionieren. Vielleicht sogar, wie die ZEIT spekuliert, wie zwei Menschen Paralleluniversen aufbauen. Manipuliert sein könnte jedenfalls sowohl der Bericht von Sven als auch der von Jola.
Uraufführungs-Regisseur Sebastian Kreyer und Bernhard Studlar, der den Roman für das Theater dramatisiert hat, gehen dieser Schwäche des Romans auf den Leim. Vermutlich interessiert sie das aber gar nicht. Vermutlich wollen sie aus dem spannenden, unterhaltsamen, doppelbödigen Roman nur eine witzige, unterhaltsame Geschichte destillieren und verzichten bewusst auf jede Doppelbödigkeit. Sie inszenieren einen netten, komödiantischen Urlaubs-Krimi mit jeder Menge Sommer-Hits und lustigen Regie-Einfällen – manchmal glaubt man das Nivea-Sonnenöl vom Strand von Cala Ratjada zu riechen. Die Frage, wessen Geschichte stimmt, stellen sie nicht. Kreyer und Studlar lassen nur Svens Version des Spiels gelten.
Bei Sebastian Kreyer wird getanzt, gekalauert und gescherzt. Auf Oberflächen-Niveau – junge Leute nehmen eine Auszeit vom stressigen Berufsleben. Manche Wortspiele sind witzig, andere platt – wie letzten Sommer am Pool. An langer, mit schlampiger Gelassenheit gedeckter Tafel wird unter freiem Himmel der Wein genossen und mit Joghurt gemanscht, da wird wie beim Animateur im Family Club das Regelwerk zur Vermeidung der Klo-Verstopfung in Liedform gesungen – ganz viel Zeit verwenden Schauspieler und Regie-Team auf die Abbildung typisch bundesdeutscher Urlaubs-Peinlichkeiten. Oft, so muss man leider sagen, mehr auf die Abbildung als auf die Satire. Dennoch ist das schmissig, hat das Schwung und oftmals Witz. Die durchweg guten Schauspieler tragen dazu bei, dass wir uns von der Fröhlichkeit, die weite Teile von Kreyers Inszenierung beherrscht, anstecken lassen. Hinreißend gelingt Sophie Basse die ein wenig naive, gutmütige und immer fröhliche Antje, eine tolle Aussteiger-Type mit Nixen-Kleid und Blumen im Haar, eine junge Frau wie Mann sie sich als Urlaubsbekanntschaft wünscht und dann hofft, dass sie ihn nach Rückkehr ins Alltagsleben nicht mehr mit SMS und Telefon-Anrufen bombardiert. Dass Jola ein Aas ist, begreifen wir bei Johanna Falckner schnell – hervorragend trifft sie das Zickige der Figur, weniger gut den hohen Flirtfaktor. Glenn Goltz verkörpert den kühlen, zynischen und emotional unbeteiligten Theo recht überzeugend; nur Jonas Minthe vermag es nicht, der Figur des verliebten Aussteigers Sven, der sich aus allem heraushalten will und dessen ganze Lebensphilosophie zu Bruch geht, Tiefe zu geben. So einfach wie großartig gelingen die Tauch-Szenen: Dann wird der Saal etwas abgedunkelt und tolle Video-Projektionen zeigen eine zauberhafte Unterwasserwelt; davor, dahinter sehen wir die Schauspieler in Badekleidung. Falsett-Gesänge im Stil von Sigur Rós begleiten die Tauchgänge. Großartig auch die poetischen Bilder des Schiffswracks, zu dem Sven am Ende fatalerweise taucht – und zu denen Jolas perfides Spiel in einem langen Monolog enthüllt wird. Langeweile stellt sich beim Zuschauer zu keinem Zeitpunkt ein.
Und doch haben wir verstanden, warum sich die bei der Premiere anwesende Juli Zeh nur mühsam ein verkniffenes Lächeln zum Schlussapplaus abringen konnte. Viel zu spät gelingt es Kreyer, sich von der Comedy zu lösen. Frühzeitig schon gibt es Ansätze, kurze, flashlightartig aufblitzende Bilder einer möglichen Gefahr: ein Messer, das Theo auf Antje richtet, kurze Psycho-Terror-Szenen zwischen Jola und Theo, die die aufgekratzte Strandstimmung unterbrechen. Die Brüchigkeit des Glücks von Sven und Antje schimmert mehr als einmal durch. Doch immer wieder gibt Kreyer den Verlockungen des Trashs nach. Und die gesellschaftspolitische Dimension, die Juli Zeh natürlich ebenfalls immer wieder in den Roman eingestreut hat, hat schon Studlar in seiner Bearbeitung gestrichen. So bleibt: ein Sommer-Hit. Nach dem alten Motto: Besser unter Niveau amüsiert als auf gehobenem Niveau gelangweilt. Frau Zeh war’s wohl zu wenig, die Bonner Studenten werden dennoch ihren Spaß haben.