Übrigens …

Republik der Wölfe im Dortmund, Schauspielhaus

Sex, Drugs and Rock’n Roll mit den Brüdern Grimm

Danielle de Picciotto ist Mitbegründerin der Berliner Love Parade, Kunst- und Musikwissenschaftlerin und Multimedia-Künstlerin. Erstmals steht sie jetzt live auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels: als Mitglied einer exquisit besetzten vierköpfigen Band: mit dem unvergleichlichen Dortmunder Theatermusiker Paul Wallfisch, mit Alexander Hacke, dem Gitarristen und Bassisten der Einstürzenden Neubauten, und mit Nick Caves Schlagzeuger Mick Harvey, der inzwischen auch mit großartigen Solo-Konzerten auf Tournee geht. „Ich bin gekommen, euch zu erinnern: Kommt alle näher“, lockt Picciotto zu Beginn der Aufführung. „Habt ihr die Einschlafträume schon vergessen?“ – Wenn Mama sie vorlas, hat, soweit ich mich an meine Kindheit erinnere, die Drastik von Grimms Märchen kein Kind am Einschlafen gehindert. Ihre Darstellung in Film und Fernsehen dagegen schon. Im Theater hat Eva Verena Müllers Dornröschen nach 100 Minuten 100 Jahre Schlaf hinter sich und fragt: „Ist die Welt noch da?“

Es ist ein Wunder, dass die Welt dieses Trommelfeuer an Alpträumen überlebt hat. Ein Märchenmassaker haben Claudia Bauer und die Band angerichtet, ein Massaker auf der Basis von Grimms Märchen und deren mystisch-gruseliger Bearbeitung in den Gedichten von Anne Sexton. Die Volksmärchen strotzen nur so von Grausamkeiten und Brutalitäten, und dass sie Generationen von kleinen Kindern faszinierten, ohne bei den Kids bleibende Schäden zu hinterlassen, spricht der wohlmeinenden pädagogischen Lehre des 21. Jahrhunderts Hohn. Jacob und Wilhelm Grimm wissen das; Sebastian Kuschmann und Ekkehard Freye halten sich angsterfüllt aneinander fest – und ringen miteinander um die richtige (auch: politisch korrekte!) Überlieferung: Muss man, sollte man die Märchen gut ausgehen lassen, weil sie schließlich einen pädagogischen Effekt haben sollen? Wir wissen heute, wie sehr die Brüder Grimm die Überlieferungen bearbeitet, gekürzt oder schlichtweg verfälscht haben.

Claudia Bauer aber tut sich keinen Zwang an. Genussvoll zeigt sie das Splatterhafte der Geschichten, die kriminelle Energie ihrer Protagonisten. Sie überzeichnet die Brutalitäten ins Trashige, manchmal auch ins Eklige. Da gibt es das reinste Kettensägenmassaker, wenn sich Aschenputtels Stiefschwestern verstümmeln, um in die kleineren Schuhe zu passen – oder um des Prinzen Phantasien zu bedienen, der nämlich einen Krüppel heiraten möchte. Ein großartiges Triptychon entsteht in dem zweistöckigen Geisterhaus, das Andreas Auerbach für diese Tales of Mystery and Imagination auf die Drehbühne gesetzt hat: Oben wird getanzt, vorn sitzt Aschenputtel auf dem Rasen, und die Stiefschwestern hacken sich die Füße ab. Dem Einhorn wird das Horn abgeschnitten; Rumpelstilzchen wird zu einer bösartigen Missgeburt mit großem, altem Kopf auf kleinem Körper mit Babyhändchen, und zu einem psychedelischen Lied vergewaltigt der Froschkönig die arme Prinzessin. Dabei entstehen phantastische Bilder, sei es im Spiegelsaal von Schneewittchens Stiefmutter (mit einem markerschütternden Schrei lässt Friederike Tiefenbacher Glas zerspringen), sei es im Reich der offensichtlich drogensüchtigen Altrocker-Zwerge, bei denen das fast wie im japanischen Nô-Theater geschminkte, leichenstarre Schneewittchen wohl kaum glücklich werden wird. Uwe Schmieder gibt den bösen Wolf als alten Mann im grauen Anzug, der der Großmutter mit gezieltem Fußtritt das Genick bricht, und lädt die Verfolgung des süßen RotCapechens mit jeder Menge sexueller Bedeutung auf – eben jener sexuellen Konnotation, die die Brüder Grimm weitgehend aus den überlieferten Volksmärchen herauszensiert haben. Wunderschön das Bild, in dem Julia Schubert sich im Bauch oder auch nur auf dem geilen Körper des bösen Wolfs wiegt – sie schimmert schemenhaft durch das durchsichtige Großmutter-Nachthemd, das der Wolf nach seinem Mord übergestreift hat. Der Kraft und der Herrlichkeit des Wolfes hat das schöne RotCapechen sich nicht ganz unfreiwillig hingegeben …. - Das schönste Bild aber ist den Frauen des Dortmunder Sprechchors vorbehalten, die „Die zwölf tanzenden Prinzessinnen“ geben – mit viel Mut zur Hässlichkeit, mal apathisch in der Ecke liegend, mal tanzend zu dröhnenden Walzerklängen, mit unbeweglichen, leeren Gesichtern. Auf faszinierende Weise tragen die vorwiegend schon etwas älteren Damen den Zuschauer fort in eine geheimnisvolle Mythenwelt.

Freunde und Kenner des Horrorfilm- oder Splatter-Genres werden jede Menge Zitate erkennen. Aber auch Freunde des politischen Theaters kommen auf ihre Kosten, doch sie benötigen Konzentration und Toleranz. Denn die Texte wirken manchmal etwas bemüht – manchmal etwas elitär, und dann wieder ein wenig banal und aus dem Zusammenhang gerissen. Anne Sexton in der Splatter-Welt – das passt zwar manchmal, aber nicht immer. Nicht ohne Erfolg versucht das Team, die Märchen-Alpträume mit den Alpträumen unserer heutigen Welt in Bezug zu setzen: vordergründig mit Mord und Totschlag und Pädophilie, bei näherem Hinhören mit aktuellen politischen Problemen wie der weltweiten Schere zwischen Arm und Reich, mit rein materiellen Erziehungs-Leitbildern, die dem Nachwuchs nicht Geborgenheit geben, sondern dem Erfolgsdruck aussetzen. Wenn der Müllermeister im Rumpelstilzchen seine Tochter, eine ganz normale, biedere junge Frau mit höchst durchschnittlichen Talenten, dem König als Superwoman anpreist, dann sehen wir, wie Bettina Lieder verkrampft. So etwas kann nur zu Depression oder Explosion führen…

Letzten Endes lebt diese Aufführung von ihren grandiosen Bildern und ihrer coolen Musik. An den Texten ließe sich noch feilen. Wir erleben einen Trip, einen mitreißenden, manchmal drogenvernebelt erscheinenden Ausflug ins Reich des Unterbewussten. Einen Augen- und Ohrenschmaus, in seinen besten Momenten durchaus mitreißend. Dass Anne Sexton, die, stets suizidgefährdet, ihre Lyrik auch zu therapeutischen Zwecken produzierte, an diesen Stoffen ihre Kreativität entzündete, erscheint nach dem Besuch der Aufführung logisch. Anne Sexton brachte sich trotzdem um.

 „Ist die Welt noch da?“ – Ja, wenn sie nicht gestorben ist, dann leidet sie weiter an unseren Süchten und Sehnsüchten, unseren Egoismen und Intrigen, unseren Ängsten und Alpträumen. Wir aber lernen zu lieben ohne zu leiden: Wir genießen einfach den Rausch des Splatterhaften, in dem offenbar schon die Geschichtenerzähler der Volksmärchen schwelgten. Und den Jacob Grimm uns vorenthalten wollte.