Übrigens …

Das Himbeerreich im Theater Duisburg

Irgendwem müssen Sie ja vertrauen

Kennen Sie das auch, dieses Unbehagen, wenn der Fernsehkrimi im Milieu Ihres eigenen beruflichen Umfelds spielt? Irgendwie ist das immer, wie sich Klein-Lieschen die Welt vorstellt – eine authentische Darstellung der Berufswelt des Zuschauers scheint der Darstellenden Kunst nicht zu gelingen. - Nun, es ist Zeit für ein Coming Out: Der Schreiber dieser Zeilen ist Banker. Knapp 30 Jahre hat er in diesem Metier gearbeitet, glücklich und zufrieden, doch mit zunehmend sorgenvoller Miene. Denn er war Personalmanager in einem Institut mit starkem, vielleicht zu starkem Investment Banking Arm und einer seriösen, qualitativ hochwertigen Corporate Banking Vergangenheit. Jetzt begegnete er im Theater Duisburg einer Ansammlung von Typen, wie sie authentischer kaum hätten gestaltet werden können.

Andres Veiel hat ein Banker-Stück geschrieben. Präziser: Er hat es collagiert aus knapp 30 Interviews mit Menschen aus der Finanzbranche. Vorwiegend mit Investment Bankern, mit aktiven und gefeuerten Vorständen, mit arbeitenden und zur Ruhe gesetzten Führungskräften und mit dem einen oder anderen „normalen Angestellten“. Die Ergebnisse dieser Interviews hat er zu einem Text montiert, den man als Theaterstück kaum bezeichnen kann: Er ist wenig mehr als die Abbildung der Welt einer kleinen Gruppe von Akteuren in einem riesige Summen bewegenden „systemrelevanten“ Wirtschaftssektor. Verdichtet auf sechs exemplarische Figuren: fünf Führungskräfte aus der Finanzbranche und einen Chauffeur, der wie ein weiser Shakespeare’scher Narr etwas Humor und ein wenig Erdung im Real Life in den Theaterabend bringt. Dieser Fahrer ist der einzige, dessen Figur in der Darstellung durch Jürgen Huth ein wenig übertrieben wirkt.   

Die anderen, die da in den wunderschönen gläsernen Aufzügen der edlen silber- oder bronzefarben schimmernden Eingangshalle des Bankenimperiums von Bühnenbildnerin Julia Kaschlinski auf und ab fahren, kennen alle, die in der Branche gearbeitet haben. Es sind Menschen mit Stil, die ihre brutalen Messages mit formvollendeten rhetorischen Formulierungen zu überbringen pflegen – so wie Susanne-Marie Wrage als Personalmanagerin Dr. Brigitte Manzinger. Sie weiß eine Menge über Hirnforschung und über die Manipulierbarkeit von Entscheidungsträgern. Und gibt ungerührt eine Art Sozialbeauftragte für entsorgte Alt-Vorstände, die sie mit Golf-Veranstaltungen und einem Vortrags- und Kulturprogramm bei Laune hält, damit sie nicht über ihre Vergangenheit als aktive Banker plaudern. Dann gibt es da die internen Systemkritiker, die letztendlich dennoch Teil des Systems bleiben. Und da sind die von der Entwicklung der Branche und dem Druck durch die „Rain Maker“ überforderten resignierten Risikomanager: sie erkennen genau, dass ihr Schiff in die falsche Richtung steuert, sie durchschauen die von den Marktbereichen geschönten Zahlen und Analysen, haben aber keinerlei Chance gegen die nur auf Volumen und Ertrag fixierten Kollegen: „Wenn Sie Ihre Bedingungen durchsetzen, scheitert der Deal, und Sie sind dafür verantwortlich“, heißt es dann. Risikomanager werden als Bremser stigmatisiert. Die Chance auf kurzfristigen Ertrag lässt fast jeden Entscheidungsträger eher der Marktseite als dem Risikovorstand zuneigen. Realwirtschaftliche oder gar moralische Aspekte spielen allenfalls die zweite Geige: „Die Ressourcenallokation im Finanzbereich erfolgt nicht dort, wo das Geld gebraucht wird, sondern wo es den meisten Ertrag bringt“, heißt es sinngemäß im Text. Schauspielerisch ist Manfred Andrae als einsamer, aber resignativer Warner in der Wüste die überzeugendste Figur des Abends. Sein „Himbeerreich“ geht am schnellsten unter. Als er die Bank verlassen hat, seufzt er: „Jetzt sitze ich hier, und alles ist so ruhig.“ Draußen tobt die Finanzkrise.

An dieser Stelle droht die Inszenierung den Risikomanager durch ein wenig Spott zu desavouieren. Aber Andraes Figur ist exemplarisch für die menschliche Tragik, die die heraufziehende Krise für die Gegner der Zocker in den Banken mitgebracht hat. Unliebsame Vorstände und Führungskräfte werden durch Lancieren von rufschädigenden Pressemeldungen ans Messer geliefert oder durch Abhöraktionen: Aufmerksame Leser des Wirtschaftsteils erinnern sich an eine Bank in Hamburg. Erlebt haben wir, wie regionale Institute oder im Investment Banking über eher geringe Erfahrung verfügende Banken auf die Global Player geblickt haben, die einen besonders heißen Reifen fuhren: „Wenn Goldman Sachs und Morgan Stanley damit Geld verdienen, können wir nicht abseits stehen.“ Ein Satz aus dieser Inszenierung – ein Satz, der manche deutsche Bank beinahe oder auch tatsächlich in den Abgrund gerissen hat: Wenn man dem Marktführer Paroli bieten will, muss man größere Risiken eingehen als dieser. Das geht oft schief.

So war es damals, in den Jahren vor der großen Finanzkrise, als es hieß: „The Sky is the Limit.“ Die Limitierungen der eigenen Mannschaft und ihr Erfahrungshorizont wurden ausgeblendet. Währenddessen wurden in den USA und am Finanzplatz London Finanzprodukte geschnürt, die man ganz harmlos Derivate nannte (und Finanzderivate sind beileibe nichts Schlimmes) und die sich später den Namen „Giftpapiere“ verdienten: Ein paar verantwortungslose Bonus-Banker packten reichlich ausfallgefährdete Kredite mit ein paar Forderungen erstklassiger Bonität zusammen und verkauften das Paket als bombensichere Anlagen. Dass sie zwar Bomben, aber nicht sicher waren, konnte von außen kaum jemand erkennen: „Ich verschwende keine Zeit für Details“, sagt der Vorstandsvorsitzende in Veiels Stück: „Ich muss ständig Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen niemand durchschaut. Höchstens ein oder zwei Leute wissen, was in einem Produkt drinsteckt.“

Das ist eine Anklage, die Veiel damit erhebt. Aber: Es ist auch die Wahrheit. Es ist ein Dilemma, dem kein Vorstandsmitglied entflieht: Die Menge und die Komplexität der zu treffenden Entscheidungen sind so groß, dass ein einzelner Entscheidungsträger nicht mehr alles durchschauen kann. Der Schreiber dieser Zeilen ist überzeugt, dass in manchen Banken niemand – auch nicht „ein oder zwei Leute“ - wusste, was in den gekauften Anlageprodukten drinsteckte. „Irgendwem müssen Sie ja vertrauen“, sagt Ulrich Matthes als der systemkritische Gottfried Kastein, und er hat ja so Recht. Die Banken haben den Rating-Agenturen vertraut. Wem die vertraut haben, weiß man nicht so recht. Veiels Anklage geht keineswegs ins Leere: Nur muss man fragen, ob die Menschen, die in Veiels Aufführung exemplarisch auf der Bühne stehen, diejenigen sind, die zu kritisieren sind, oder die Zustände. Es ist wohltuend, mit welcher Objektivität Veiel in seinem Stück Kapitalismuskritik äußert. Da gibt es keinen Agitprop und keine Stammtischparolen. Da agieren Steuermänner und -frauen, denen ihr eigenes Vehikel außer Kontrolle geraten ist. Die unterschiedlich auf den Kontrollverlust reagieren – mit Resignation, mit Realitätsverweigerung, durch Ignorieren oder mit aggressivem Weiterso. Aber die reflektiert sind, die sich Gedanken machen und selbst zu tragischen Figuren werden. Die alle scheitern. Frau Dr. Manzinger, die aggressivste Figur, fällt am tiefsten: Sie scheidet freiwillig aus - mit einer schweren psychischen Störung und einem totalen Breakdown. „Sie hat das System solange verteidigt, bis sie selbst schon im freien Fall war“, sagt Ulrich Matthes. – Auch diese Leute kennt der Banker nur zu gut.

Exzellent sind alle diese Typen mit ihrem geschwollenen Banker-Sprech getroffen – und doch: Es fehlt eine Facette in diesem Stück. Veiels Stück basiert auf realen Interviews. Investment Banking mag ein typischer Berufsstand für reine Ich-AGs sein – aber seine Vertreter sind nicht dumm: Im Interview mit Presse- oder Theaterleuten verhalten sie sich sozialadäquat, verantwortungsbewusst und im besten Falle sogar selbstkritisch. Die Figuren in der Aufführung des Deutschen Theaters Berlin sind keine typischen Investment Banker; schon gar nicht sind sie Zocker-Typen. Sie sind von hanseatischer Zurückhaltung wie Manfred Andrae, agieren etwas oberflächlich, aber mit durchaus seriösem Willen zum Geschäft wie Sebastian Kowski, sind vielleicht etwas überehrgeizig wie Susanne-Marie Wrage. Es fehlen in diesem überraschend wenig diversifizierten Typenkabinett diejenigen, die wirklich Schuld tragen an der Finanzkrise, die ja letztlich vor allem eine Vertrauenskrise war: die ausschließlich auf ihre persönliche Gewinnmaximierung fixierten Boni-Banker, die Job Hopper, die, von keinerlei Unternehmens-Loyalität angekränkelt, mit sagenhafter Überheblichkeit, Arroganz und Chuzpe von den Vorständen erhöhte Zocker-Limite einforderten und damit unter Inkaufnahme hoher Risiken kurzfristig attraktive, bonusrelevante Renditen erwirtschafteten und das Unternehmen wieder verließen, bevor diese Deals „faul“ wurden. Um dann in neuem Spiel bei anderen Banken ihr Glück zu versuchen. Diese Typen treten anders auf. Sie gibt es nicht in Veiels Stück.

Diese Typen haben den Ruf eines ganzen Berufsstandes zerstört. In der Publikumsdiskussion wurde im Anschluss an dieses ausgewogene Stück umsichtig argumentiert, aber Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel. Ausnahmen, die im normalen Alltag keine sind: Ob eines der Team-Mitglieder sich nach so intensiver Beschäftigung mit der Materie mal überlegt habe, ganz ohne Bank auszukommen – ohne jegliche Kontoverbindung, fragte jemand. Ein dümmlicher Einwurf, der aber typisch für die unreflektierten Vorurteile und Ängste der Gesellschaft ist: Alle Bankangestellten sind Betrüger. Dass das, was die Finanzkrise ausgelöst hat, nichts mit dem Kundengeschäft einer mittleren Sparkasse oder Volksbank zu tun hat, dass der Anlageberater von Otto Normalkunde gleich welcher Bank niemals die Gelegenheit hat, sich mit den inkriminierten Produkten professionell zu beschäftigen – das begreift der Stammtisch nicht. Investment Banking und das Massenkundengeschäft – das sind zwei verschiedene Branchen. Die meisten Banker verdienen das gleiche Vertrauen wie jeder andere von uns in seinem Berufsstand. Das Problem ist ein System, das Menschen anzieht, die skrupellos auf Kosten ihrer Arbeitgeber und deren Kunden persönliche Gewinnmaximierung betreiben. Ein System, das moralisch fragwürdiges Handeln nicht bestraft, sondern durch kurzfristige Erfolgsbeteiligungen belohnt. Wir haben ein systemisches Problem – und ein gesellschaftliches, nämlich eines der allgemeinen Moral. (Das übrigens spiegelbildlich bei den weniger Privilegierten des Gesellschaft zu finden ist: Neid verstellt genauso den Blick wie Gier.) Andres Veiel weiß das. Er zeigt es in seiner thesenhaften, für Nicht-Fachleute aber nicht leicht zu verstehenden Inszenierung überzeugend auf.