Kontrollierte Offensive
Von der da wolle sie nichts geschenkt, hatte Kreusa gerade noch gesagt: Medea solle sich trollen, endgültig verschwinden aus Korinth. Papa Kreon hat Medea ja aus dem Land verbannt und deren Ex-Gatten Jason mit Kreusa vermählt. Doch schönen Kleidern und Geschmeide kann keine Frau widerstehen. Kreusa nimmt Medeas Hochzeitsgabe an: Sie legt das rote Kleid an, das dem der Medea so gleicht, hängt sich die Ketten mit den Holzperlen um und setzt die Perücke mit den langen schwarzen Haaren auf. Rassig sieht Floriane Kleinpaß nun aus – an Exotik übertrifft sie die angebliche Barbarin Medea sogar. Sie tanzt, sie wedelt mit dem Fächer: Mit ihrer Schönheit und ihrem exotischen Schmuck scheint auch Kreusas Selbstbewusstsein zu wachsen. Doch dann wirkt das Gift: Kreusa verbrennt, erstickt an dem Zauber, den Medea in Kleidung und Geschmeide gewirkt hat. - Das alles geschieht im hinteren Teil der Essener Bühne – vorn rechts aber sitzt Janina Sachau als Medea mit dem bösen Blick der Hexe. Auch sie wedelt mit einem Fächer. In stillem Triumph.
Es ist die stärkste Szene dieses Abends, und sie lässt wohl niemanden im Publikum unberührt. Die Monstrosität von Medeas Tat vermittelt sich eindrucksvoll, obwohl der noch erschreckendere zweite Teil ihres Racheplans, der Mord an den eigenen Kindern, eher beiläufig geschieht. Doch nicht nur die Unfassbarkeit von Medeas Familiengemetzel, sondern auch die Monstrosität ihres Leidens stellt Regisseurin Konstanze Lauterbach am Schluss noch einmal heraus. „Die Liebe ist zerrissen. Ich bin frei. Wunschlos höre ich auf die Leere, die mich jetzt erfüllt“, sagt Medea. Sie liefert sich einem Schicksal ohne Hoffnung aus – aber sie tut das in Würde. Zuvor nur knapp bekleidet, wickelt sie sich nunmehr in einen golden gleißenden Umhang, in die Folie, die zuvor die Bühne nach hinten abgeschlossen hatte. Vorher war sie hitzig, nur in durchbrochene Netzstrümpfe und ein knappes Trikot gekleidet. Jetzt wickelt sie sich in immer mehr Stoff ein, verkriecht sich bis ans Kinn in den Umhang, als könne er ihr Schutz geben. Doch nichts wird diese verzweifelte, von ihrer Liebe verratene Frau mehr wärmen.
Sie wolle die Geschichte über den Schmerz der Medea-Figur erzählen, hatte Konstanze Lauterbach im Vorfeld der Premiere gesagt. Das streifte zu Beginn auch einmal die Grenze zur Peinlichkeit. Wenn Medea – überwiegend aus dem Off – lauthals schluchzt, exzessiv weint, beschleicht den Zuschauer ein Störgefühl. Das passt nicht zu dieser Schauspielerin, zu der starken, zarten Janina Sachau. Das mag den Klageschreien der griechischen Tragödie nahekommen, aber in unserer Vorstellung zeichnet sich Medea zwar durch radikales Vorgehen, aber auch durch eine ungewöhnlich hohe Affektkontrolle aus. – Nun, das Störgefühl geht vorüber. Kaum beginnt Medea zu reden, erkennen wir die großartige Janina Sachau wieder, die zu Beginn der Spielzeit aus Düsseldorf nach Essen wechselte, weil die neue und schon wieder alte Intendanz sie dort schmählich unterschätzt hatte: Blicke, die fesseln können, klare, situationsangemessene Intonation, perfekt gesetzte Sprachpausen. Medea gewinnt ihre Fassung zurück, besinnt sich dann auf ihren Stolz, um schließlich unbändiger Wut Raum zu geben. Furios, doch – von wenigen Momenten abgesehen – kontrolliert, schmerzerfüllt und doch analytisch, angriffslustig und doch überlegt. „Kontrollierte Offensive“ würde Rehakles das nennen. - „Erzähl uns doch von deiner Kindheit, als alles seinen Anfang nahm“, fordert der Chor sie auf – und Musik setzt ein, stolz richtet Medea sich auf, ihr Blick geht in die Ferne; in knappen Worten skizziert sie eine faszinierende, fremde Welt. Und schließt ihre Beschreibung völlig überraschend ab: „Wie hier…“ – Da flackern sie noch einmal ganz kurz auf, die Sehnsucht und der Wille nach dem Ankommen im fremden Korinth, nach Integration in der neuen Welt. Ihre Erzählung mündet in einen glücklichen Tanz, befreit und … wild! - „Ausländer wie dich mag ich nicht“, sagt Kreon.
Diese Mischung aus Affektkontrolle, kühler Überlegung und ausbrechender Emotion, die wir bei Medea beobachten können, fasziniert. Hinten findet die Hochzeit von Jason und Kreusa statt; vorn an der Rampe zeigt Medea Wut und Schmerz. Als sie von ihren Plänen zum Kindsmord spricht, zeigt Sachau Anzeichen einsetzenden Irrsinns: Ihre Gliedmaßen zucken, ihre Beine stampfen – die Kontrolle über Körper und Seele geht verloren. Dann verwandelt sich die ganz in Schwarz gekleidete Medea in die schöne Wilde mit rotem Federkleid, langen Rasta-Haaren – und einer Schale Weintrauben für Jason: eine gefährlich schöne, berechnende Verführerin.
Wesentlich geerdeter erscheint ihre Amme, die vor allem im ersten Teil von Konstanze Lauterbachs Inszenierung eine tragende Rolle übernimmt. Oft brütet Ines Krug düster am Bühnenrand, sie weiß, sie ahnt, und sie analysiert illusionslos die Lage; sachlich erzählt sie zu Beginn die zum Verständnis der Situation wichtige Vorgeschichte vom Raub des Goldenen Vlieses durch die Argonauten. Deren Anführer war Jason: Falls es je eine heldenhafte Tat gewesen ist, Georgien zu überfallen (dortselbst lag das antike Kolchis), so hat Jason heute allen Heldenmut verloren – Thomas Büchel gibt ihn als opportunistischen, manchmal auch arg naiven Nobody. Seiner Ex wirft er vor, sich zu sperren gegen „höheres Recht“ und Autoritäten nicht anzuerkennen. Etwas thesenhaft wirkt die auf neuzeitlichen Kothurnen (sprich: Bausteinen) ausgetragene exemplarische Auseinandersetzung, in der es auch um Anpassung und Integration versus starrsinniges Festhalten an alten Regeln geht – und um ein Mindestmaß an Gastfreundschaft, das dem Einwanderer entgegengebracht werden sollte. Und es geht um den alten Widerspruch zwischen pragmatischem Kopfeinziehen und mutigem Eintreten für moralische Rechte und Prinzipien.
Getragen wird die Aufführung von der herausragenden schauspielerischen Leistung von Janina Sachau. Ihr am nächsten kommt Ines Krug als Amme. Floriane Kleinpaß als Kreusa zeigt eine interessante Entwicklung ihrer Figur auf: Glaubhaft vermittelt sie zu Beginn, dass sie sich durch das „Kolcher-Scheusal“ bedroht fühlt. Furchtsam ist sie, unsicher – und doch auch: rassistisch. Innere Stärke scheint sie erst zu gewinnen, als sie die schönen Barbarenklamotten von Medea anlegt – doch nach dreißig Sekunden ist der Spaß vorbei…
Ein wenig uneinheitlich wirkt die Inszenierung dennoch: Lauterbach, die in ihren Inszenierungen oft als eine große Bildermalerin und Choreographin überzeugt, entwirft diesmal häufig Szenen, die in ihrem Pathos prekär wirken, weil sie sich in Widerspruch zur manchmal durchaus flapsigen Übersetzung befinden. Merkwürdig naiv wirkende sprachliche Passagen treffen unvermittelt auf einen pathetischen griechischen Chor, recht moderne Teflon-Männer auf starke Griechendramen-Frauen. Das ist nicht immer aus einem Guss – aber Janina Sachau und der eindrucksvolle Schluss sichern dem Premierenabend den verdienten langen Applaus.