Ein kaltes, zynisches Spiel
Vor sechs Tagen hatte die Dramatisierung von ihrem jüngstem Roman Nullzeit am Theater Bonn ihre Uraufführung, heute feierte am Rheinischen Landestheater Neuss eines der zahlreichen Nachspiele von Spieltrieb Premiere, des knapp zehn Jahre alten zweiten Romans der promovierten Juristin Juli Zeh. Beide Bücher hat der österreichische Dramatiker Bernhard Studlar für die Bühne bearbeitet. Wer die Aufführungen nacheinander besucht, kann kaum glauben, dass die Theaterfassungen aus ein und derselben Feder stammen.
„Um anwendbar zu sein, braucht das Recht einen Vermittler zwischen Wort und Welt, da diese beiden, seit es Sprache gibt, im Stellungskampf miteinander liegen“, heißt es in Zehs Spieltrieb. Dieses Zitat aus dem Roman steht am Beginn der Aufführung am Rheinischen Landestheater Neuss, chorisch gesprochen von allen Schauspielern wie so manche Passagen, die von allgemeingültigem Erkenntniswert sind und die Juli Zehs spannenden und ungemein brisanten Roman manchmal (gottlob vorübergehend) so störend sachbuchhaft wirken lassen. Dieses Zitat hat auch Gültigkeit für Zehs Nullzeit, wenn man den Roman konsequent zu Ende denkt und sich mit der erschreckenden Erkenntnis auseinandersetzt, die hinter dessen rätselhafter, nicht völlig aufgeklärter Krimi-Handlung steckt. Der Vermittler zwischen Wort und Welt fehlt nämlich in Nullzeit; und das brächte für den Ich-Erzähler eine zerstörerische Gefahr mit sich, wenn er vor einem Gericht der Rechtsprechung ausgesetzt werden würde. Recht aber könnte ohne diesen Vermittler nicht gesprochen werden - jedenfalls nicht ohne die Gefahr des Justizirrtums, denn die Wahrheit in diesem Roman wird sich niemals ergründen lassen. Auch Nullzeit, wiewohl im Vergleich zu Spieltrieb der weniger komplexe Roman, ist von faszinierender Doppelbödigkeit und gesellschaftspolitischer Relevanz. Bernhard Studlar und Uraufführungs-Regisseur Sebastian Kreyer haben sich dafür jedoch in Bonn nicht interessiert und eine unterhaltsame Urlaubskomödie aus dem Roman gemacht. Doppelbödiges, Parabelhaftes haben sie gestrichen, den Blick auf die – zugegebenermaßen zwischen den Zeilen des Romans versteckte – zwangsläufige Unzulänglichkeit der Wahrheitsfindung unserer Gerichte verweigert.
Etwas völlig anderes erleben wir im Studio des Rheinischen Landestheaters. Ronny Jakubaschks Inszenierung von Spieltrieb sind die Unzulänglichkeit des Rechts, aber auch die Schwierigkeiten einer Vermittlung zwischen Wort und Welt mit Leuchtschrift eingeschrieben. Denn wir starten da, wo der Roman endet: im Gerichtssaal. Die Geschichte von Ada und Alev, die mit Hilfe eines schachspielartigen Projektplans zur Befriedigung ihres Spieltriebs, zum Nachweis ihrer intellektuellen Überlegenheit und ihrer höchst eigenen Form von Nihilismus einen Lehrer verführen und ihn mit den Videos vom (zunächst erzwungenen) Sex mit der Schülerin erpressen, wird in Rückblenden erzählt. Wir sind im Gerichtssaal; alle Figuren sind stets auf der Bühne anwesend und warten als Zeugen oder Angeklagte, bis sie aufgerufen werden. Dann ergeben sich rudimentäre Spielhandlungen – es wird berichtet, was geschah. Und, mal chorisch, mal von Ada und Alev vorgetragen, was sich die beiden heranwachsenden Hochintellektuellen dabei gedacht haben. In diesem Gerichtssaal, der zum Theaterraum wird, wird keine Komödie verhandelt, nicht einmal ein Krimi. Da beschäftigt sich ein Regie- und Dramaturgie- und Schauspieler-Team mit dem komplexen Gedankenkonstrukt der Autorin. Der Roman, dessen Schwäche seine ab und zu verloren gehende emotionale Qualität ist und dessen Stärke das hochintelligente Sezieren einer Generation, die sich selbst als „Urenkel der Nihilisten“ bezeichnet, einer Generation, deren Wertevorstellungen von ihrer Umwelt nicht mehr bedient werden und die deshalb zynische Spiele treibt, wird genau so präsentiert: als anspruchsvolles Gedankenkonstrukt. Jakubaschk und seine Dramaturgin Barbara Noth haben Literaturanalyse betrieben, zitieren Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, an den sich die Erzähl- und Kapitelstruktur von Juli Zehs Roman anpasst. Motive der Spieltheorie werden angesprochen und erläutert, insbesondere das Gefangenendilemma, der diabolische Zusammenhang zwischen Zusammenarbeit, Vertrauen und Verrat – ein Teufelskreis, in dem der verführte und erpresste Lehrer Smutek überfordert ist. Ada und insbesondere Alev treiben ein zynisches, kaltes Spiel mit dem Lehrer – es ist ein Strategiespiel, ein Wettkampf um die intellektuelle Hoheit im Komplexitätsmanagement, im Vorausahnen der Handlungen fremder Personen über mehrere Perioden und mehrere Ereignisse hinweg.
Sind die theoretischen, fast schon philosophischen Passagen beim Lesen des Romans eher Stolperstellen in der spannenden Handlung, so gelingt es Jakubaschk und seinem Team, gerade dieser Ernsthaftigkeit und intellektuellen Kompetenz des Stückes Spannung zu verleihen. Das intensive Spiel der Akteure und der auf kurze 100 Minuten gekürzte, geschickt collagierte und sprachlich dichte Text schaffen eine konzentrierte, beklemmende Atmosphäre. Als Zuschauer hat man das Gefühl, keinen Satz dieses eindringlichen Abends verpassen zu dürfen. Manchmal fließt ein wenig Poesie ein – ausgerechnet mit dem ersten Auftritt des Ober-Zynikers und brillanten Intellektuellen Alev El Qamar, den Henning Strübbe mit Unnachgiebigkeit und unerbittlicher Arroganz, beim Besuch von Adas Mutter aber auch mit schmelzendem, von ganz oben herab triefendem Charme spielt. Er hat, wie Smutek über ihn sagt, „die Härte und die Intelligenz eines Wahnsinnigen“. Sein Gegenpol, Adas sympathischer Klassenkamerad Olaf, mit dem sie wohl angebändelt hätte, wäre Alev nicht aufgetaucht, verkörpert das Gute, Reine in diesem Stück, den Interessenausgleich zwischen „Pizza, Petting, Poesie“. Georg Strohbach nimmt unsere Herzen im Sturm und ist der einzige, der uns mit seiner Lebensfreude, aber auch seiner Empathie gelegentlich zum Schmunzeln bringt. Großartig gelingt die gegensätzliche, spiegelbildliche Charakterisierung von Ada (Shari Asha Crosson) und Adas Mutter (Hergard Engert): Um ihr Glück gestalten zu können und einen so gesunden Ausgleich zwischen gelassenem Leben und intellektuellem Ehrgeiz finden zu können wie Olaf, hat die Mutter zu wenig und Ada zu viel Intelligenz, und aus dem gleichen Grunde sind sie auch nicht fähig, ausreichend empathisch auf ihre Mitmenschen einzugehen. Zu viel Bauchgefühl, zu viel Einfühlungsvermögen dagegen hat Smutek, überzeugend gespielt von Andreas Spaniol als ein Getriebener, als ein loyaler, an der Mehrheit der Menschheit noch nicht verloren gegangenen Moralbegriffen langsam zugrunde gehender Mensch. Ein Mensch, der anders als die Nihilisten Ada und Alev etwas zu verlieren hat: Eine Frau? Einen Job? Geld? Vor allem wohl einen Glauben – einen Glauben weniger an Gott als an sich selbst. Ungeheuer nachvollziehbar ist es, wenn Spaniol als Neusser Smutek sich langsam, aber sicher in seine erpresserische Verführerin Ada verliebt: Zu Hause hat er eine kranke, an schweren Depressionen leidende Frau, die ihn in ein emotionales Gefängnis sperrt – nun fährt er auf die starke, emotional so stabile Ada ab.
Am Ende sind wir wieder im Gerichtssaal. „Glauben Sie mir, dass ich mich für meine Seele ebenso wenig interessiere wie für die Ihre“, sagt Ada zu ihrer Richterin: „Ich glaube nicht einmal an ihre Existenz.“ Doch auch Ada hatte sich zum Schluss im Verhältnis zu Smutek gegen etwas wehren müssen, was sie bislang ablehnte: Gefühl. Jetzt fordert sie ganz im Einklang mit ihrer Erschafferin Juli Zeh: „Tun Sie, was Sie wollen. Aber tun Sie es mit offenen Augen.“ Wir aber schmecken noch einem Satz aus dem Roman nach: „Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht.“